Eine App kalkuliert den Schaden am Auto
Schlaue Systeme (9) Das ehemalige Start-up Fiasco aus Kernen im Remstal ist mit seiner Software zur automatischen Schadenserkennung inzwischen gut auf dem Markt etabliert. In Zeiten des Fachkräftemangels könnten beispielsweise Werkstätten so entlastet werden.
Von Lynn Nagy
Kernen im Remstal. Önder Aslan aus Kernen richtet die Kamera seines Smartphones auf sein geparktes Auto. Auf dem Bildschirm läuft die von ihm und seinem Geschäftsführerkollegen Harun Coskun entwickelte App Fiasco, die mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) Schäden an Fahrzeugen erfassen kann. Eine Grafik auf dem Bildschirm gibt ihm einen Anhaltspunkt, in welchem Winkel und aus welcher Entfernung er die Fotos von seinem Auto aufnehmen soll.
Obwohl Önder Aslan die App beim Pressetermin nur kurz vorführt und ihm keine Schäden am eigenen Fahrzeug bekannt sind, hat Harun Coskun bereits Minuten später ein Ergebnis bei sich auf dem Rechner vorliegen: „Da sind Schäden dran“, sagt Harun Coskun. Und tatsächlich: Die KI hat an der Stoßstange ein paar kleine Kratzer gefunden, die selbst der Autobesitzer nicht auf dem Schirm hatte.
Die Vorführung zeigt, was die Software des 2021 gegründeten Kernener Unternehmens kann: „Sie könnten mit der App rausgehen und einen Schaden kalkulieren“, erklärt Önder Aslan. Die beiden Firmengründer haben ihre Erfahrung aus der Praxis in die Entwicklung der Software einfließen lassen: Önder Aslan hat 2012 den Lack- und Karosseriebetrieb Reit in Rommelshausen übernommen, der laut eigenen Angaben des Geschäftsführers zu den ganz großen Lack- und Karosserieadressen in Deutschland gehört. Harun Coskun ist Diplom-Ingenieur und war viele Jahre lang Projektleiter und Entwicklungsingenieur bei einem Automobilhersteller.
Mittlerweile habe sich Fiasco auf dem Markt gut etabliert, berichtet Önder Aslan. Hauptzielgruppe des Software-Unternehmens sind mittlerweile Versicherungen und Leasing-Anbieter, aber auch Werkstattketten und private Kfz-Werkstätten. Die KI in ihrer App soll dabei nicht etwa ausgebildeten Fachleuten den Job wegnehmen, sondern auf ein durch den Fachkräftemangel entstehendes Problem reagieren und Versicherungen wie Werkstätten entlasten.
Ein Kostenvoranschlag wird an Werkstatt und Versicherung geschickt
Der Altersdurchschnitt bei den Gutachtern sei seiner Erfahrung nach recht hoch, berichtet Fiasco-Geschäftsführer Aslan. Nachwuchs gebe es wenig. Mit ihrer App könne einfach jeder Autobesitzer selbst ein Gutachten durchführen – die KI soll dabei sogar abschätzen können, ob ein sichtbarer Schaden zur angegebenen Unfallgeschichte passt oder nicht. Über eine hinterlegte Historie zum Fahrzeug soll außerdem ausgeschlossen werden, dass ein identischer Schaden mehrfach angegeben wird.
Es reicht aus, die Handykamera ein paar Sekunden lang auf den Fahrzeugschein zu richten, und schon sind alle Fahrzeugdaten erfasst. Das klappe dank der KI auch, wenn der Schein ein bisschen zerknittert sei, sagt Harun Coskun. Aufgrund der mit der Kamera erfassten Schäden, der Fahrzeugdaten und der Angaben des Fahrers zum Unfallhergang erstellt die App einen ersten Kostenvoranschlag, der an die Versicherung beziehungsweise eine teilnehmende Werkstatt übermittelt wird und innerhalb von Minuten dort vorliegen soll. Dieser Kostenvoranschlag sei zu 98 Prozent zuverlässig, sagt Önder Aslan, zumindest wenn das Auto maximal zwölf Jahre alt sei.
Geringere Genauigkeit bei älteren Autos
Auch bei etwas älteren Autos könne die App angewendet werden, die Genauigkeit sei dann aber entsprechend geringer, je weniger Daten über ein Fahrzeug vorliegen und je seltener es im Straßenverkehr vorkommt. Für Oldtimer sei das Verfahren nicht geeignet. Natürlich schade es nicht, das Auto trotzdem vor der Reparatur in der Werkstatt einmal vorzuführen. Aber die vorgefertigte Analyse und der Kostenvoranschlag seien eine große Erleichterung in der Schadensabwicklung bei Versicherungen, bei Leasing-Anbietern und beim Flottenmanagement, in den Werkstätten fallen Nebentätigkeiten weg und auch für den Kunden sei es bequem.
Beim Thema KI gebe es immer noch viele „Hürden im Kopf“. Um ihrer künstlichen Intelligenz ein Gesicht zu geben, ist jetzt die Kunstfigur „Sofia“ entstanden: Die Grafik eines blauen Fuchses kommt im Marketing als „Gesicht“ der KI zum Einsatz, zum Beispiel auf den sozialen Medien. Es gibt schon viele Ideen, wie sich Fuchs Sofia interaktiv entwickeln könnte: Denkbar wäre zum Beispiel, dass Nutzer künftig direkt mit Sofia sprechen können, ähnlich wie mit Apples KI Siri oder Amazons Alexa, erklärt Önder Aslan. Relevant ist beim Thema künstliche Intelligenz natürlich auch das Thema Datenschutz: Die Fiasco-Anwendung ist DSGVO-konform, die Zertifizierung nach ISO-Standards soll bald erfolgen. „Die Server stehen alle in Deutschland“, betont der Geschäftsführer.
Langfristig will Fiasco sich auf dem Markt noch stärker etablieren
Für das Kernener Software-Unternehmen läuft es im Moment richtig gut. „Die Aufmerksamkeit für KI ist enorm gestiegen“, sagt Önder Aslan. Inzwischen habe sich der Markt für sie von „pull to push“ verändert: Anfangs hätten sie sich ins Zeug gelegt, um Gespräche mit potenziellen Kunden zu bekommen, jetzt kämen große Ketten und Versicherungen von selbst auf sie zu.
Dabei setzt Fiasco auch darauf, die web-basierte Anwendung an die Bedürfnisse der Kunden anzupassen: Eine Versicherung habe schließlich andere Anforderungen an Fiasco als eine Kette, die darauf spezialisiert ist, Steinschläge in Frontscheiben zu reparieren.
In nächster Zeit möchte das Unternehmen gerne noch verschiedene Schnittstellen mit marktführenden Systemen etablieren und langfristig seinen Marktanteil immer weiter vergrößern: „Vom Can-have zum Must-have“, formuliert Önder Aslan die Ziele des Software-Unternehmens.