Frust statt Lust im Rentnerleben
Von 100 auf null? Viele tun sich schwer damit, den für sie passenden Ruhestandsmodus zu finden. Wenn auf einmal alles wegbricht, was im Leben bisher wichtig war – Arbeit, Anerkennung, Status – , gerät die Psyche ins Trudeln. Angstzustände und Depressionen drohen.
Von Armin Fechter
BACKNANG. Dass der Rentenbeginn auch Risiken für die Seele birgt, mag sich zunächst keiner vorstellen, der sich auf seinen Ruhestand freut. Nur zu gern wollen die meisten angehenden Pensionisten die täglichen Zwänge abstreifen, die das Erwerbsleben mit sich bringt und denen sie jahrzehntelang unterworfen waren. Der Übertritt in den noch ungewohnten Lebenszustand gelingt denn auch oft reibungslos. Doch häufig folgt dem letzten Arbeitstag eine gähnende Leere – erst jetzt spüren die Ruheständler, dass ihnen der gewohnte Weg ins Büro, das Hallo im Betrieb, der Austausch mit den Kollegen und, ja, auch die Herausforderungen im Job fehlen. So kann sich der Abschied aus dem Berufsleben zu einer emotionalen Krise auswachsen, ein mentaler Zustand, den Fachleute mit dem Begriff Empty-Desk-Syndrom beschreiben – der Schrecken des leeren Schreibtischs: Es gibt plötzlich keine Aufgaben und Ziele mehr. Der Mensch ist, wie es landläufig heißt, in ein Loch gefallen.
Liane Dresler: „Mit dem Wechsel in den Ruhestand bricht unter Umständen so viel weg, dass es ihnen den Boden unter den Füßen wegzieht.“
Die Diplom-Pädagogin Liane Dresler, die in der Familien- und Lebensberatung des Kreisdiakonieverbands in Backnang tätig ist und parallel noch in ihrer eigenen Beratungspraxis als Therapeutin arbeitet, kennt die Erscheinung. Es handle sich an sich nicht um eine Erkrankung. Betroffene, die sich an sie wenden, haben meist schon eine ganze Weile unter den Symptomen gelitten. Zu dem Phänomen gehören Langeweile, das Gefühl einer inneren Leere, auch Stimmungsschwankungen, Selbstzweifel und andere emotionale Veränderungen, die von der Umgebung zunehmend registriert werden und Angehörige oder auch den Hausarzt alarmieren. „Die meisten Klienten werden geschickt“, fasst Liane Dresler zusammen.
Vom Empty-Desk- Syndrom betroffen sind, wie die Beraterin erklärt, vor allem Männer, für die die Arbeit der Dreh- und Angelpunkt des Lebens war und die dabei führende Positionen bekleidet haben. Sie haben viel erreicht, haben Karriere gemacht, sind Leistungsträger, übernehmen große Verantwortung, widmen ihre Interessen und Gedanken dem Job, haben Macht, ein hohes Einkommen und einen dementsprechenden sozialen Status und sie ziehen ihre Erfüllung aus dem Beruf. „Mit dem Wechsel in den Ruhestand bricht unter Umständen so viel weg, dass es ihnen den Boden unter den Füßen wegzieht“, beschreibt Liane Dresler die Situation.
Parallelen zu Verlustgeschichten
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Traditionelle Rollenverhältnisse haben große Bedeutung: Es sind Männer, seltener Frauen, die sich allein über den Beruf definieren, sie opfern sich darin auf – und sitzen nun plötzlich zu Hause. „Die Alltagsstruktur ist mit einem Mal eine ganz andere“, verdeutlicht die Expertin und zieht Parallelen zu anderen Verlustgeschichten – zum Beispiel dem Verlust eines geliebten Menschen. „Die neue Rolle konnte man nicht üben“, schildert sie das Problem Trauernder, die in jedem Winkel ihres Hauses, bei jeder Begegnung mit Bekannten, bei jeder Tätigkeit und Besorgung mit der entstandenen Lücke konfrontiert sind. Und sie erklärt weiter: Hat jemand seinen Selbstwert allzu sehr über sein berufliches Engagement bezogen, bedeutet der Eintritt in den Ruhestand eine schmerzhafte Zäsur. Der Mann wird quasi von seinem kompletten Netzwerk abgetrennt. Auch Privilegien wie Dienstwagen und Chauffeur fallen weg – der bisherige Status kollabiert.
Auch ein leeres Nest kann bedrücken
Gleichzeitig wird auf der anderen Seite das heimische Leben auf eine Zerreißprobe gestellt, denn die Umbruchsituation erstreckt sich auch auf die Paarbeziehung – plötzlich ist man rund um die Uhr und sieben Tage die Woche mit der Familie zusammen und beginnt womöglich, den Alltag der anderen daheim zu managen. Nicht selten kommt es den Beteiligten dann vor, als wäre ein fremder Mensch bei einem zu Hause. Frauen hingegen pflegen das familiäre und soziale Umfeld, Beziehungen und Freundschaften in traditionellen Verhältnissen häufig viel intensiver. Aber auch sie können sich in Verlusterfahrungen verlieren, warnt Liane Dresler: Frauen droht das Empty-Nest-Syndrom, wenn sie sich allzu sehr auf die Sorge für die Familie konzentriert haben – denn eines Tages sind die Kinder weg, der Gatte hat seinen Beruf. Das Haus, das heimische Nest, ist leer und die Mutter ist allein und einsam übrig.
Aber wie lässt sich verhindern, dass der Eintritt in den Ruhestand zu einem krisenhaften Ereignis gerät? Ein Patentrezept oder etwa zehn goldene Regeln für angehende Rentner sieht Liane Dresler nicht. Vielmehr rät sie grundsätzlich dazu, in Balance zu kommen und zu erkennen, was für die eigene Gesundheit von Wert ist. Sie empfiehlt aber Ruheständlern in spe einen Check-up, etwa entlang von Fragen wie: Was macht für mich das Leben lebenswert? Was ist mir wichtig? Was mache ich noch – neben dem Job? Habe ich einen Freund, den ich auch nachts um 3 Uhr noch anrufen kann, wenn ich jemanden brauche? Welche Ideen habe ich für die Zeit nach der Arbeit? Welche Dinge will ich verwirklichen, die offen geblieben sind? „Pflegen Sie Beziehungen außerhalb Ihres Jobs“, lautet Dreslers Appell, deshalb gibt sie auch den Tipp, die Kontakte auf dem Smartphone schon beizeiten einmal kritisch durchzugehen.
Foto: privat
Vorfreude Wie es sich anfühlt, wenn man von Empty-Desk-Symptomen eingeholt wird, hat Diana Koch-Laquai erfahren.
Die ehemalige Bankerin und Unternehmensberaterin, die sich ihrem Job mit Herzblut verschrieben hatte, war permanent unter Strom gestanden, als sie noch in einem hektischen und anspruchsvollen Umfeld zwischen Frankfurt, London und New York unterwegs war. Vor ein paar Jahren nahm sie dann das Angebot ihres Arbeitgebers an, in den Vorruhestand zu gehen. „Ich habe mich tierisch auf den Ruhestand gefreut. Aber ich hatte keine Vorstellung, was mich erwartet“, blickt die 64-Jährige zurück. Von Vorbereitungskursen für die Zeit nach der Arbeit, die von der Bank – wie von manchen anderen großen Unternehmen auch – angeboten wurden, machte sie jedoch keinen Gebrauch. Das bereut sie heute.
Umstellung Am 1. März 2020 sollte das neue Leben beginnen. Sollte. Aber da ging nichts mehr. Alle Vorhaben – Skiurlaub, Reisen, Treffen mit anderen Menschen – mussten wegen der einschneidenden Coronamaßnahmen gestrichen werden. Auch das ehrenamtliche Engagement beim Plüderhausener Theater hinterm Scheunentor lag auf Eis. „Mir ist die Decke auf den Kopf gefallen“, sagt Koch-Laquai über die Zeit. „Ich hatte das Gefühl, es ist alles zu Ende.“ Aber ihr war auch klar: „Es ist schlimm, wenn man sich verkriecht.“ Auf der Suche nach einem Betätigungsfeld probierte sie einiges durch, geriet dabei aber in eine Spirale, die sich immer schneller drehte. „Ich kam nicht mehr vom PC weg.“ Das sei dann für sie fast zum Full-Desk-Syndrom geworden. Zuletzt heuerte sie als freie Mitarbeiterin beim Zeitungsverlag Waiblingen an, schreibt jetzt PR-Artikel und hat so wieder, wie früher, mit mittelständischen Unternehmen zu tun.
Hilfe Sehr geholfen hat ihr, wie sie sagt, das Engagement im Kreisseniorenrat. Die Interessenvertretung der Älteren im Rems-Murr-Kreis war 2020 auf der Suche nach einer Schriftführerin, Diana Koch-Laquai bewarb sich und wurde gewählt. Ihr erstes Projekt: die Gestaltung der Homepage. Zudem startete sie eine Initiative, mit der sie auf Unternehmen im Landkreis zuging: Den Mitarbeitern, die vor der Rente stehen, sollten Informationen und Beratung vonseiten des Kreisseniorenrats ermöglicht werden. Doch die Resonanz der Unternehmen fiel enttäuschend aus. Angehenden Rentnern rät Koch-Laquai, sich frühzeitig über den Ruhestand Gedanken zu machen und nicht zu denken, das sei Urlaub. Dann solle man sich auch nicht in Ablenkungen flüchten, sondern ganz bewusst die Beziehungen in der Familie pflegen, Kontakt zu Freunden und Kollegen halten und Treffen mit Ehemaligen aus der Firma besuchen. Auch Hobbys, Sport und Musik täten gut; bei Ehrenämtern rät sie, sich nicht zu viel zuzumuten.