Geboren am 1. Januar – oder auch nicht
Die Festlegung des Geburtstags auf den ersten Tag des Jahres ist in vielen Ländern üblich. Allein in Backnang feiern 116 Syrer an diesem Tag ihr Wiegenfest. Aber auch bei Personen aus Afghanistan, Pakistan, Eritrea und der Türkei steht der Neujahrstag oft als Geburtstag im Ausweis.
Von Uta Rohrmann
Backnang. Hussein Al Bakri, Anas Alhamoud und Najeb Kaysi haben einige Dinge gemeinsam: Sie stammen aus Syrien, leben in Backnang und haben am 1. Januar Geburtstag. Das zumindest sagt ihr Ausweis. Welche Gepflogenheiten und persönlichen Geschichten dahinterstehen, dass das Datum auf dem Papier von dem tatsächlichen Tag ihrer Geburt abweicht, erzählen die drei Geburtstagskinder sowie die Mutter des neunjährigen Najeb, Wahida Alwaki, und Sandra Amofah, Integrationsbeauftragte der Stadt Backnang.
„Gefühlt betrifft das sehr viele Geflüchtete“, so Amofah, die auch Leiterin der Stabsstelle für Integration und Flucht der Stadt Backnang ist. „Wir haben mal nachgeschaut: In Backnang haben allein unter den syrischen Menschen 116 offiziell am ersten Tag des Jahres Geburtstag. Zudem steht vor allem bei Personen aus Afghanistan, Pakistan, Eritrea und der Türkei der Neujahrstag überdurchschnittlich oft als Geburtsdatum auf dem Ausweis. Nimmt man die Jahrgänge 1985 bis 2000, so sind es insgesamt 154.“ Festgelegt werde der 1. Januar zum einen von deutschen Behörden, wenn Asylsuchende keine Identitätspapiere vorweisen könnten, häufig sei dies aber auch bei den Behörden der Herkunftsländer üblich, sofern vor allem in ländlichen Gebieten kein anderes Datum erfasst sei.
Eltern wollen mit der Vordatierung eine verfrühte Schulpflicht verhindern
Für Wahida Alwaki aus der nordsyrischen Stadt Aleppo war es eine bewusste Entscheidung. Ihr Sohn Najeb kam am 28. Dezember 2014 zur Welt. Der Geburtstag wird sowohl in der Grundschule bedacht als auch daheim in der Familie und mit Verwandten gefeiert. Da in Syrien aber alle Kinder in dem Kalenderjahr schulpflichtig werden, in dem sie das sechste Lebensjahr vollenden, entschloss sich Alwaki mit ihrem Mann, Najebs Geburtstag um vier Tage vorzudatieren und ihn somit vor einem Schuleintritt bereits mit fünf Jahren zu schützen.
„Das machen viele Eltern so – nicht nur, um einer verfrühten Schulpflicht zu entgehen, sondern auch, um zu verhindern, dass ihr Sohn früher zum Militär muss, als unbedingt nötig. In dem Jahr, in dem ein junger Mann 19 Jahre alt wird, muss er seine Wehrpflicht ableisten“, erklärt Hussein Al Bakri. Dies habe auch für seinen Vater eine Rolle gespielt, als er den Geburtstag seines Sohnes mit dem 1. Januar des Folgejahres erfassen ließ. Allerdings weiß der junge Mann, der mit 14 Jahren in Syrien seinen ersten Ausweis bekam und inzwischen einen deutschen Pass hat, bis heute nicht, wann sein eigentlicher Geburtstag ist. „Ich wollte das unbedingt wissen“, sagt der 32-Jährige, der andere Menschen aus dem arabischen Raum bei der Integration unterstützt. „Ich habe meine Mutter, meine Tante, meine Oma danach gefragt.“ Die Antworten waren vage: „Es hat geregnet und es war in der Nacht“, habe sich seine Mutter erinnert. Zwischen September und dem Jahresende müsse es gewesen sein. Die Tante habe sein Geburtsdatum schließlich weiter eingrenzen können: „Es war in der Woche, in der jemand gestorben ist – so Ende Oktober.“ Irgendwann legte der Kurde, der als Erster aus seinem Dorf bei Afrin per Kaiserschnitt entbunden worden sei – im Krankenhaus der Großstadt Aleppo –, dann für sich fest, dass sein Geburtstag am 24. Oktober sei. In Deutschland, seiner neuen Heimat, feiert er mit Freunden, da seine Familie nicht hier lebt
.Zum Feiern fehlt oft Geld und Zeit
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In den Herkunftsländern des Nahen Ostens sei es traditionell kaum üblich, Geburtstage zu feiern. „Oft sind viele Kinder da und die Eltern sind nicht so reich, um jedes Mal extra eine Feier ausrichten zu können“, sagt Hussein Al Bakri. „Man hatte einfach auch keine Zeit dazu“, ergänzt Anas Alhamoud, der aus dem Gebiet um die ostsyrische Stadt Deir ez-Zor stammt und seit einem Jahr in Deutschland lebt. Von seiner Mutter, die starb, als er noch ein Kind war, hatte er nur erfahren können, dass er irgendwann im Dezember geboren sei. „Einmal im Leben wurde mein Geburtstag gefeiert. Es war mein zwanzigster. Meine Brüder – ich habe sechs und drei Schwestern – haben eine Überraschungsparty für mich organisiert. Das war schön!“, erinnert sich Wahida Alwaki.
Gemeinschaftlich gefeierte Feste haben im Orient jedoch eine große Bedeutung. Als Erstes nennen die syrischen Gesprächspartner das muslimische Zuckerfest, bei dem die Kinder mit Süßigkeiten und Geld bedacht würden, um sich einen Wunsch zu erfüllen. Alhamoud nennt außerdem das Opferfest. Für Alwaki ist zudem der Tag der Mutter am 21. März von besonderer Bedeutung, für Al Bakri Naurus, das kurdische Nationalfest: „Eine sehr gute Atmosphäre herrscht da, man geht mit der ganzen Familie hin, man grillt und tanzt“, schwärmt er.
Seit ein paar Jahren würden aber auch zunehmend Geburtstage gefeiert. „Es gibt inzwischen große Partys und Geburtstagskuchen“, so Al Bakri. Statistisch nehme der Trend zum 1. Januar als Geburtsdatum in den Jahrgängen nach 2015 ab, beobachtet Amofah. „Aber auch heute gibt es das noch“, weiß Alhamoud. „Meine Tochter ist am 6. Dezember 2021 in der Türkei geboren. Meine Schwiegermutter wollte, dass wir ihr Geburtsdatum mit dem 1. Januar 2022 angeben. Ich wollte das auf keinen Fall. Unsere Kinder sollen nicht das durchmachen, was ich durchgemacht habe. Sie sollen wissen, wann sie geboren sind. Das soll eindeutig sein.“