„Ich hege keinen Groll“
Mutmacher-Geschichten: Seit einem Autounfall vor 17 Jahren ist Jens Mebert querschnittsgelähmt. Der Murrhardter nimmt sein Schicksal an und lässt sich durch den Rollstuhl nicht aufhalten.
Von Lorena Greppo
MURRHARDT. Mit 19 Jahren hat das Erwachsenenleben gerade erst angefangen. Jens Mebert kann sich noch gut daran erinnern, wie das war. „Da war ich noch egoistischer, vielleicht sogar ein bisschen abgehoben“, sagt der ehemalige Spieler des VfR Murrhardt. Man ist unbeschwert, übermütig. So lässt sich vielleicht auch erklären, wie es zu dem Unfall kam, der Meberts Leben verändert hat. Am 26. September 2004 befindet er sich gemeinsam mit zwei Mitspielern auf dem Rückweg von einem Fußballspiel in Winterbach. „Wir waren zu schnell unterwegs“, gibt der Murrhardter unumwunden zu. Zwischen 130 und 140 Stundenkilometer hatte das Auto drauf, Tempo 70 war erlaubt. „Zwischen Murrhardt und Fornsbach hat der Fahrer die Kontrolle über das Auto verloren, in einer Kurve sind wir geradeaus gefahren.“ Der Wagen schleudert über eine Böschung und kracht gegen einen Baum. Jens Mebert ist noch bei Bewusstsein, als die Einsatzkräfte ihn und seine Mitspieler aus dem Autowrack freischneiden müssen. „Ich habe gleich gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Ich habe meine Füße nicht mehr gespürt“, erinnert er sich. Mit einem Hubschrauber wird er ins Katharinenhospital nach Stuttgart geflogen, wird dort sofort notoperiert.
Als er wieder zu sich kommt, gilt seine erste Frage seinen Mitspielern. Seine Eltern bestätigen die schlimmen Befürchtungen: Während der Fahrgast auf der Rückbank den Unfall mit vergleichsweise leichten Verletzungen überstanden hat – „er spielt heute noch Fußball“ –, hat der 23-jährige Fahrer des Wagens nicht überlebt. Mebert selbst hat sich beim Aufprall den siebten und achten Brustwirbel gebrochen, ist seitdem querschnittsgelähmt. Wie verkraftet man ein so einschneidendes Erlebnis? „Da gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man nimmt es an und versucht, das Positive zu sehen, oder man lässt sich hängen und versinkt im Selbstmitleid.“ Letzteres sei für ihn aber nicht infrage gekommen. „Ich war schon immer ein Typ, der die Herausforderung annimmt.“ Die Fragen nach dem Warum und dem Was-wäre-Wenn stellt er sich nicht. Das koste nur Kraft und bringe einen nicht weiter.
Nach vier Wochen aufzusitzen, ist eine Mammutaufgabe.
Der Anfang seines neuen Lebens im Rollstuhl sei beschwerlich gewesen, schildert der heute 36-Jährige. Die ersten zwei Wochen nach dem Unfall verbringt er auf der Intensivstation. Es gibt Zwischenfälle, einmal kollabiert seine Lunge. Dann wird er in eine Spezialklinik in Markgröningen überführt. „Ich habe auch dort die ersten zwei Wochen nur liegen dürfen“, sagt Mebert. Aufzusitzen danach war eine Mammutaufgabe. Der Murrhardter muss vieles ganz neu erlernen. Wie komme ich ins Bett? Wie ziehe ich mich an? An den Rollstuhl muss er sich gewöhnen. „Die eigene Perspektive verändert sich, der Unfall hat mich geerdet. Da sind manche Dinge auf einmal gar nicht mehr so wichtig.“ Er bleibt dennoch optimistisch: „Ich habe noch mal Glück gehabt“, sagt er und meint das nicht nur im Hinblick auf seinen verstorbenen Vereinskameraden. Denn Merberts Oberkörper ist mobil, er kann seine Arme bewegen, so stehen ihm viele Möglichkeiten offen. Und aus seinem Umfeld erhält er großartige Unterstützung. „Es war immer jemand da für mich. Der Besucherraum in Markgröningen war manchmal total überfüllt. Das hat mir Power gegeben.“
Seine Eltern lassen einen Aufzug in der Scheune neben ihrem Haus installieren, sodass der Sohn auch ins Obergeschoss kann. Später lässt Mebert die Scheune abreißen und baut an gleicher Stelle ein Haus. Für ihn sei immer klar gewesen: Aus Murrhardt wollte er nicht weg. „Hier gefällt es mir einfach“, sagt er. Auch dem VfR ist er treu geblieben, ist inzwischen seit gut 30 Jahren Mitglied, besucht die Jahresfeiern, schaut immer wieder bei Spielen zu und bringt sich ehrenamtlich ein. Inzwischen spiele auch sein Sohn im Verein Fußball. „Ich hege keinen Groll“, sagt er. „Ich bin dankbar für die tolle Zeit vor dem Unfall. Aber auch heute bin ich vollauf zufrieden und glücklich mit meinem Leben, so wie es ist.“ Durch den Rollstuhl fühle er sich nicht eingeschränkt. „Natürlich kann ich nicht mehr auf einen Baum kraxeln“, sagt Mebert lachend. „Aber es gibt 1000 Dinge, die ich stattdessen machen kann.“
Und das stellt er immer wieder unter Beweis. Der 36-Jährige reist gerne – auch in entfernte Länder. Unter anderem war er schon in Kenia, Australien und China. Im Rahmen der Tour „Rolli extreme“ fuhr Mebert ins alpine Gelände, erkundete eine Höhle, paddelte im Kanu und flog mit dem Gleitschirm. Angst aufgrund des Erlebten habe er nicht. Fußball kann er nicht mehr spielen, dafür fährt der Murrhardter unter anderem mit dem Handbike – in Stuttgart hat er so einen Halbmarathon absolviert – und spielt mit dem TSV Ellwangen unter anderem in der Regionalliga Rollstuhlbasketball. Auch das Skifahren hat Mebert für sich entdeckt, wobei er dieses Hobby inzwischen weitgehend eingestellt hat. „Das ist sehr speziell und zum Teil gefährlich. Und ich kann einfach nicht langsam fahren“, erklärt er schulterzuckend. Das habe er nicht mehr guten Gewissens mit seiner Verantwortung gegenüber seiner Familie und in seinem Beruf vereinbaren können.
Auch im Berufsleben ist sich Jens Mebert treu geblieben. Zum Zeitpunkt des Unfalls war er im dritten Lehrjahr als Elektroniker. Die Ausbildung habe er nicht zu Ende bringen können, da habe ihn der Rollstuhl behindert. „Ich wollte aber immer in dem Bereich bleiben.“ Also holt er sein Abitur nach und studiert an der Hochschule Heilbronn Elektrotechnik. Seine Bachelorarbeit schreibt er in einem anderen Unternehmen, aber ihm sei früh klar geworden, dass er am liebsten bei Tesat arbeiten will. „Ich war als Kind schon von der Raumfahrt begeistert“, erzählt er. Zudem sei die Lage in Backnang attraktiv, denn schließlich wollte er in Murrhardt wohnen bleiben. Seine bewusste Suche nach einer Stelle im Unternehmen zahlt sich aus. 2012 wird er eingestellt und ist auch heute noch überzeugt: „Das ist der perfekte Job für mich.“
Überhaupt wirkt Jens Mebert mit sich im Reinen. Wenn andere Menschen ihm gegenüber wegen seiner Querschnittslähmung distanziert sind, so bleibe das nie lange so. „Die merken schnell, dass ich ein offener Typ bin und der Rollstuhl für mich kein Problem darstellt.“ Seine Erfahrung gebe er auch an andere weiter, die in einer ähnlichen Lage sind.
In der Serie Mutmacher-Geschichten berichten wir über Menschen, die ihr Glück gefunden haben, die schwierige Situationen gemeistert und ihre Träume verwirklicht haben. Damit setzen wir einen Gegenpol zu all den negativen Nachrichten, die jeden Tag in der Zeitung stehen.