Kühn wie Kennedy
Alexandria Ocasio-Cortez (29) ist die jüngste Abgeordnete in der Geschichte des US-Repräsentantenhauses und das Gesicht einer Rebellion gegen das „Weiter so“
Portrait - Alexandria Ocasio-Cortez ist nicht nur die jüngste Abgeordnete in der Geschichte des amerikanischen Repräsentantenhauses, die 29-jährige New Yorkerin ist auch das Gesicht einer Rebellion gegen das „Weiter so“.
Washington Neulich bei South by Southwest, dem Hightech-Festival im texanischen Austin. Alexandria Ocasio-Cortez sitzt auf der Bühne und redet über die Mondlandung. Über US-Präsident John F. Kennedy, der verkündete, dass der erste Mensch noch vor Ende der sechziger Jahre einen Fuß auf den Erdtrabanten setzen würde. „Wir sind auf den Mond geflogen, weil wir entschieden haben, dass wir es machen. Und nicht, weil wir gesagt haben: Oh nein, lasst uns warten, bis auch das letzte technische Detail geklärt ist“, sagt Ocasio-Cortez – und springt dann in die Gegenwart: Kennedys Kühnheit, eine ehrgeizige Vision, das sei es, was Amerika ein zweites Mal brauche.
Nur dass der Auftrag diesmal nicht laute, zum Mond zu fliegen. Sondern ausnahmslos jeden krankenzuversichern. Dafür zu sorgen, dass jeder einen Lohn bekomme, von dem man leben könne. „Und unseren verdammten Planeten zu retten.“ Das sei nicht radikal, sagt Ocasio-Cortez. Es scheine nur so, weil sich Amerika zu weit entfernt habe von seinem Kern, von dem, wofür es einmal gestanden habe.
Seit Bernie Sanders 2016 mit feurigen Wahlkampfreden durchs Land zog, hat die amerikanische Linke nicht mehr für solches Aufsehen gesorgt. Das liegt an AOC – das Kürzel, das sie sich bei Twitter zulegte, ist längst zu einer Marke geworden. Oder zu einer Provokation, je nach Sichtweise. Mit 29 ist sie die jüngste Frau, die je ins Repräsentantenhaus in Washington gewählt wurde.
In einem Ausschuss des Abgeordnetenhauses machte sie eine Runde von Ethik-Experten verlegen. „Lassen Sie uns ein Spiel spielen“, begann Ocasio-Cortez. „Ich bin jetzt mal der Bösewicht, wofür mich jeder Zweite in diesem Saal wahrscheinlich ohnehin hält, und will so viele schlimme Dinge wie möglich tun, idealerweise, um mich zu bereichern.“ Wenn sie also einen Wahlkampf führe, der ausschließlich von der Industrie finanziert werde, gebe es irgendein Gesetz, das sie daran hindern könne? „Nein.“ Wollte sie Aktien von Öl- und Gasunternehmen kaufen und später Gesetze schreiben, die diese Firmen von Umweltauflagen befreien und damit den Aktienkurs nach oben treiben – wäre das legal? „Das könnten Sie tun.“ Glamour, Zuspitzung, dramatische Fragestunden: Sie weiß, was zu tun ist, um aufzufallen.
Ocasio-Cortez charakterisiert sich als demokratische Sozialistin. Leute mit mehr als zehn Millionen Dollar Jahreseinkommen will sie mit einem Spitzensteuersatz von 70 Prozent zur Kasse bitten. Wirft man ihr vor, damit die Volkswirtschaft zu ruinieren, erinnert sie an Dwight Eisenhower und Richard Nixon, an republikanische Präsidenten. Auch unter denen seien Steuern in dieser Höhe das Normale gewesen, bis Ronald Reagan sie drastisch senkte. Dass sich die USA unter Eisenhower oder Nixon vom Kapitalismus abgewandt hätten, könne nun aber keiner behaupten. Wenn aber Menschen 70 oder 80 Stunden pro Woche arbeiten müssten und ihre Familien dennoch nicht ernähren könnten, habe der Kapitalismus ein kritisches Spätstadium erreicht.
Dass die linke Rebellin zumindest in ihrer Generation einen Nerv trifft, machen Umfragen aus dem vergangenen Herbst deutlich. Nach einer Erhebung der Universität Harvard geben zwar 43 Prozent der 18- bis 29-jährigen Amerikaner kapitalistischen Verhältnissen den Vorzug vor sozialistischen, bei 31 Prozent aber ist es umgekehrt. Den demokratischen Sozialismus unterstützen sogar 39 Prozent.
Als Ocasio-Cortez in New York zur Welt kam, Tochter einer Mutter aus Puerto Rico und eines Vaters aus der Bronx, hatte die Berliner Mauer noch knapp vier Wochen vor sich. Was ihr Leben prägte, hatte mit dem Kalten Krieg nichts zu tun. Sie war elf, als Flugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Center krachten. Sie war 17, als die Finanzkrise Millionen von Mittelschichtenfamilien um Arbeit, Haus und Ersparnisse brachte. Ihr Vater, ein Architekt, starb im Jahr des Crashs an Lungenkrebs. Ihre Mutter verkaufte das Eigenheim und zog nach Florida, wo es sich preiswerter leben lässt als im Big Apple. Ocasio-Cortez , die in Boston Wirtschaftswissenschaften und internationale Beziehungen studierte, kehrte zurück nach New York, um die Mutter finanziell zu unterstützen. In einer Taco-und-Tequila-Bar namens Flats Fix mixte sie Getränke, bis eine von Beratern Bernie Sanders’ gegründete Organisation (Brand New Congress) sie fragte, ob sie nicht fürs Repräsentantenhaus kandidieren wolle. Im Juni 2018 gewann sie im 14. Wahlbezirk New Yorks die Vorwahl der Demokraten. Über die Hälfte seiner Bewohner stammt aus Lateinamerika, ein Fünftel aller Kinder lebt unterhalb der Armutsgrenze. Praktisch über Nacht war Alexandria Ocasio-Cortez zum Gesicht eines Aufstands der Benachteiligten geworden. Des Aufstands gegen ein „Weiter so“.
Gegen den Kapitalismus habe sie nichts, sagt sie kürzlich auf der Bühne in Austin. In ihren Augen sei es eine Frage der Prioritäten. Wenn es bedeute, den Gewinn über alles andere zu stellen, dann sei sie dagegen. „Bei mir rangiert die Gesellschaft vor dem Kapital. Es fühlt sich einfach nicht gut an, durch die Straßen New Yorks zu laufen und all die Obdachlosen zu sehen, während ringsum die Wolkenkratzer aus dem Boden schießen.“