Landrat Richard Sigel blickt im Interview auf 2023 zurück
Interview Der Landrat des Rems-Murr-Kreises Richard Sigel lässt ein Jahr mit Krisen, aber auch Grund zum Feiern Revue passieren. In Sachen Flüchtlingsunterbringung fordert er klare Regeln, beim Klimaschutz zeigt er sich optimistisch.
Im Mai sind Sie mit überwältigender Mehrheit als Landrat im Rems-Murr-Kreis wiedergewählt worden. Was wünschen Sie sich für die zweite Amtszeit?
Ich wünsche mir, dass die sach-, lösungs- und ergebnisorientierte Zusammenarbeit nach den Kommunalwahlen auch im neuen Kreistag fortgesetzt wird. Ich glaube, wir haben miteinander ganz viel auf den Weg gebracht. Ein bisschen weniger Krise wäre aber natürlich auch erfreulich.
Gefühlt kommt jedes Jahr eine neue Krise. Haben Sie noch Hoffnung auf eine Rückkehr zum „Normalzustand“?
Sartre hat mal gesagt: „Es gibt vielleicht schönere Zeiten, aber diese Zeit ist unsere Zeit.“ Es ist auch mein Verständnis, dass wir das Beste aus den aktuellen Herausforderungen sowie Krisen machen. Zuversichtlich macht mich dabei das große Engagement im Landkreis. Das verdeutlicht beispielsweise der Bürgerpreis unserer Kreissparkasse in diesem Jahr. Es sind noch nie so viele Bewerbungen eingegangen. Da fußt unsere Gesellschaft doch auf einem sehr starken Fundament. Daher habe ich trotz aller Krisen Hoffnung.
Inmitten der Krisen in diesem Jahr fanden die Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen des Rems-Murr-Kreises statt. Kam bei Ihnen Feierlaune auf?
Vielleicht nicht das ganze Jahr über, aber ja – immer wieder. Ich glaube, sogar der Ministerpräsident hatte bei seinem Landkreisbesuch und insbesondere bei unserem Jubiläumsfestabend Feierlaune. Das hängt mit dem zusammen, was er bei uns im Kreis gesehen hat und wie er die Menschen erlebt hat. Nach 50 Jahren Rems-Murr-Kreis haben wir einen Bindestrich zwischen Rems und Murr, keinen Trennstrich mehr. Die Menschen sind zusammengewachsen und wir haben ein wirklich gutes Miteinander. Unser Ministerpräsident hat vom Musterlandkreis im Musterländle gesprochen. Das freut einen natürlich, wenn man so eine Rückmeldung bekommt.
Haben Sie konkrete Projekte für Ihre zweite Amtszeit?
Im Prinzip sind es acht Themen, die ich für die kommenden acht Jahre klar definiert habe. Da steht ganz oben das Thema Gesundheitsversorgung. Dazu gehören die Kliniken, aber auch zunehmend die ambulante Versorgung. Hier habe ich klare Visionen, zu denen etwa ein Bildungscampus mit neuer Pflegeschule gehören. Klimaschutz und Nachhaltigkeit sind das zweite Topthema. Es ist wichtig, dass wir auch hier unsere Ziele erreichen. Ein Thema, das mich angesichts der aktuellen Wohnungsnot besonders umtreibt ist der Mietwohnungsbau, in den wir gemeinsam mit unserer Kreisbaugruppe bewusst investieren. Auch unsere Gesamtimmobilienkonzeption nimmt Form an. Damit sind wird der Zeit voraus und haben Standards gesetzt. Das motiviert natürlich. Gleichzeitig geht damit das fünfte Thema einher: die Verwaltungsmodernisierung. An konkreten Beispielen nehmen wir immer wieder die Dienstleistung für den Bürger in den Fokus. Dann darf der Breitbandausbau auf der Liste nicht fehlen. Wir brauchen in der Fläche den Glasfaserausbau, damit wir als Kreis attraktiv sind. Auch in das Thema Bildung müssen wir immer weiter investieren. Nicht zuletzt dürfen wir den Katastrophenschutz nicht vergessen. Ich habe immer gesagt, das darf kein Strohfeuer sein. Auch das wird konkret.
Auf einige dieser Themen gehe ich noch ein. Ich würde aber mit einem Thema einsteigen, das Sie schon Ihre erste Amtszeit über begleitet hat: Die Flüchtlingskrise. Die Zeltunterkunft in Backnang, die als Notreserve gedacht war, ist in Betrieb. Wie blicken Sie dem kommenden Jahr entgegen?
Was die Zeltunterkunft angeht bin ich optimistisch. Wir konnten zumindest die Familien vor Weihnachten rausnehmen. Wir haben jetzt nur noch Teile der Unterkunft belegt. Dass wir über Weihnachten zwei Wochen lang vom Land keine Zuweisungen mehr bekommen, hat uns diesen Schritt ermöglicht. Mit Blick auf die Flüchtlingsthematik insgesamt bin ich weniger optimistisch. Es ist und bleibt ein Riesenthema. Wir brauchen hier an den großen Stellschrauben dringend Veränderungen. Ich glaube, die Bereitschaft der Menschen, zu helfen, ist ungebrochen. Unser Problem ist, dass die Grenzen zwischen Zuwanderern, Asylsuchenden und Kriegsflüchtlingen inzwischen so verschwommen sind, dass es schwerfällt, konkrete Schwerpunkte zu setzen, auch in der Integrationsarbeit. Da bleibt der Optimismus nicht so groß. Ich glaube aber, das Thema ist in der Politik angekommen. Es spüren alle den Veränderungsdruck.
Die Kommunen beklagen, dass sie an ihre Kapazitätsgrenzen gestoßen sind. Nun macht aber die Verteilung landesweit davor nicht Halt. Kommt es noch so weit, dass Busse vor die Rathäuser gefahren werden, auch wenn keine Unterkünfte bereitstehen?
Ich bleibe dabei: Nein. Dazu kommt es im Rems-Murr-Kreis nicht, weil es meinem Verständnis der Zusammenarbeit zwischen Landkreis und Städten sowie Gemeinden widerspricht. Wir müssen Probleme gemeinsam lösen. Das bedeutet eben nicht, dass wir Kommunen Geflüchtete vor die Haustür stellen und sagen: Löst ihr die Probleme alleine. Wir haben klare Verantwortlichkeiten und eine klare Planung. Jeder weiß, welchen Beitrag er zu leisten hat, und jeder hat die Chance, sich auf seinen Teil der Aufgabe so vorzubereiten, dass er sie lösen kann. Niemand muss fürchten, dass wir darauf keine Rücksicht nehmen. Vorausgesetzt wird natürlich, dass alle ernsthaft ihren Beitrag leisten. Die Notunterkunft hat dazu beigetragen, dass wir ein atmendes System schaffen konnten. Denn wir bekommen Personen vom Land zugewiesen, egal wie weit wir mit unseren Kapazitäten sind. Deshalb müssen auch im Bereich der Landeserstaufnahme dringend Kapazitäten aufgebaut werden. Da ist noch zu wenig passiert, allerdings scheint jetzt Bewegung in die Sache zu kommen.
Das heißt, es werden auch nicht die Kommunen bestraft, die sich frühzeitig um die Problematik gekümmert haben?
Nein. Wir arbeiten mit den Städten und Gemeinden gemeinsam an Lösungen. Da muss jeder seinen Beitrag leisten. Das erwarten wir von allen und das machen bisher auch alle. Klar gibt es manchmal Zwänge und Nöte, aber hier helfen uns die Verlässlichkeit und das gute Miteinander im Kreis. Ich nehme es nicht so wahr, dass manche denken, sie können es auf Kosten anderer aussitzen. Es kann sich jeder darauf einstellen, was er 2024 an Kapazitäten schaffen muss. Damit fahren wir wirklich sehr gut.
Bei diesen und anderen Themen fühlen sich die Kommunen von der großen Politik im Stich gelassen. Auch Sie haben bemängelt, dass von Bund und Land viel gefordert, gleichzeitig aber nicht immer viel geliefert wird. Was müsste besser laufen?
Wir haben viele Punkte schon lange im Frühsommer in einer Erklärung der baden-württembergischen Landkreise formuliert und klar artikuliert. Dazu gehört, dass die illegale Zuwanderung begrenzt wird und wir die Leistungen in der Flüchtlingsunterbringung auf ein Niveau reduzieren, mit dem wir im europäischen Wettbewerb nicht besonders attraktiv sind. Ebenfalls gehört dazu, dass wir möglichst zentral registrieren und dass die Menschen dort, wo sie ankommen in Europa, auch erst mal verbleiben und dann von der EU verteilt werden. Und aus meiner Sicht gehört vor allem Ehrlichkeit dazu. Wir müssen unterscheiden zwischen Zuwanderung und Flüchtlingsaufnahme. Für beides brauchen wir klare Regeln. Das sind wir auch den Menschen schuldig, die zu uns kommen.
Schwierigkeiten macht den Kommunen – nicht nur bei der Unterbringung geflüchteter Menschen – der Mangel an Wohnraum. Die Kreisbaugruppe hat das Ziel, 500 neue bezahlbare Mietwohnungen bis 2028 zu schaffen. Liegt man hiermit gut im Plan?
Wir sind im Plan. Wir haben bei den großen Themen, die ich vorhin skizziert habe, versucht, klare politische Ziele zu setzen und haben diese mit dem Kreistag abgestimmt. Beim Wohnungsbau wird sehr genau deutlich, wo wir stehen: Ende des Jahres sind es insgesamt 294 Wohnungen und Ende 2027 schon 509 Wohnungen. Wir haben den Plan klar mit Projekten hinterlegt. Von dem her bin ich zuversichtlich, dass wir unser Ziel erreichen. Das sind geförderte Mietwohnungen, die rund 30 Prozent unter dem Mietspiegel vermietet werden.
Die meisten Bauprojekte der Kreisbaugruppe finden sich im südlichen Teil des Rems-Murr-Kreises. Wird der Altkreis Backnang abgehängt?
In Backnang entstehen auf dem früheren Klinikareal aktuell 48 neue geförderte Wohnungen, ein großes Projekt. Der Altkreis Backnang wird bei uns also überhaupt nicht abgehängt. Entscheidend ist: Wo sind welche Projekte möglich? In Murrhardt gab es beispielsweise ein Projekt, das mit einem anderen Investor realisiert wurde. In Burgstetten ist ein Projekt am Artenschutz gescheitert. Dass im Altkreis Backnang in der Vergangenheit nicht so viel passiert ist, lag auch daran, dass die Attraktivität nicht so groß war. Die ist jetzt aber enorm gestiegen und deshalb auch die Nachfrage nach Projekten. Das werte ich als positives Signal.
Ebenfalls ein Bereich, wo Sie in der Vergangenheit mehr Klarheit forderten, sind die Rems-Murr-Kliniken. Wird hier mit der Klinikreform alles besser?
Bei dem, was auf dem Tisch liegt, kann ich sagen: Ja. Für uns als Rems-Murr-Kliniken wäre es deutlich besser, wenn wir 60 Prozent der anfallenden Kosten auch als Vorhaltekosten finanziert bekommen. Dann sieht unsere Bilanz sehr ordentlich aus und es wird das bezahlt, was wir an Infrastruktur vorhalten. Dann könnten wir unsere Zuschüsse als Landkreis entsprechend reduzieren. Klar ist, dass wir in die richtigen Themen investiert haben. Alle Rechenmodelle, die wir angestellt haben, würden zu einer deutlichen Entlastung führen. Deshalb haben wir ein konkretes Interesse daran, dass sich da jetzt wirklich etwas tut.
In Sachen Klimaschutz ist der Rems-Murr-Kreis oft Vorreiter: Es wurde ein neues Amt hierfür geschaffen, der Kreis hat sich ambitionierte Ziele gesetzt. Letzten Endes ist der Einfluss der Kreisverwaltung auf die Klimabilanz des gesamten Kreises aber überschaubar. Ist das also vor allem viel Show, wie manche behaupten?
Wir versuchen, unsere Ziele immer mit Handlungskonzepten zu hinterlegen. Im Amt für Klimaschutz ist eigentlich ganz wenig Show drin, sondern es ist ein ganz konkreter Baustein, mit dem wir bei diesem Thema vorankommen wollen. Mein Ziel ist es, dass wir die Kräfte noch besser bündeln und wir die Aktivitäten mit den Städten und Gemeinden noch besser verzahnen. Wir haben zwei Ziele gesetzt: Wir wollen als Landkreisverwaltung bis 2030 klimaneutral werden. Das können wir schaffen. Der Kreistag hat außerdem zugestimmt und beschlossen, dass die Klimaneutralität bis spätestens 2040 für den ganzen Landkreis gelten soll. Auch wenn das natürlich primär ein politisches Ziel ist, werden wir es ehrgeizig verfolgen. Ich war auch immer sehr kritisch und ehrlich. Ich habe immer gesagt, dass unser Einfluss als Landkreis begrenzt ist. Aber wir können mit gutem Beispiel vorangehen. Das tun wir auch. Es stimmt, dass wir in erster Linie die Rolle des Motivators, des Beraters und des Netzwerkpartners haben. Es gibt aber auch viele Bereiche wie den ÖPNV, in den wir als Kreis bewusst investieren: Hier geben wir über 40 Millionen Euro aus und tragen damit zur Entwicklung des Individualverkehrs bei.
Im ÖPNV lief es in diesem Jahr im Rems-Murr-Kreis nicht besonders gut.
Da lief es nicht rund – weder im Kreis noch im ganzen Bahnverkehr der Region Stuttgart, vor allem was die S-Bahnen angeht. Das liegt insbesondere an Stuttgart 21. Wir haben die Deutsche Bahn deshalb mehrfach in unsere Gremien eingeladen und mehrfach an den Verband Region Stuttgart adressiert, dass es so nicht weitergehen kann. Leider sind unsere Einflussfaktoren hier aber überschaubar. Wir werden den Schienenverkehr auch zukünftig brauchen, sowohl für den Personen- als auch für den Güterverkehr. Deshalb muss man ehrlich fragen: Wie können wir für Verlässlichkeit auf der Schiene sorgen?
Sehen Sie, dass das in den kommenden Jahren auch wirklich klappt?
An der Stelle sind wir ein sehr hartnäckiger Beobachter, Kritiker und Impulsgeber. Von daher gebe ich die Hoffnung nicht auf. Ich sehe zwar das Bemühen, erwarte aber auch, dass es entsprechenden Mehrwert bringt.
Halten Sie es für realistisch, dass der Kreis bis 2040 klimaneutral wird?
Ich halte es auf jeden Fall für erstrebenswert und an sich auch für realistisch, aber ich halte es auch für ambitioniert. Schlussendlich ist es ein politisches Ziel, was wir so auch formuliert haben und selbstverständlich ernst nehmen. Aber wir kommen dort nur hin, wenn wir Stück für Stück die entsprechenden Maßnahmen umsetzen. Nur das Ziel zu nennen, das reicht nicht aus. Das wäre unehrlich.
Das Gespräch führte Lorena Greppo.