Mit Fotos gegen das Schubladendenken
Mutmacher-Geschichten: Hülya Marquardt ist mit Dysmelie zur Welt gekommen, Fehlbildungen an den Händen und Beinen. Auf Instagram postet die 37-Jährige Bilder aus ihrem Alltag – und macht damit anderen Mut.
Von Melanie Maier
WEISSACH IM TAL. Der Laufstall steht erst seit Kurzem vor dem Fernseher. Jetzt, mit zehn Monaten, ist Rangi Manawa am liebsten auf Erkundungstour im Haus. „Nichts ist vor ihm sicher“, sagt Hülya Marquardt und lacht. Gerade ist ihr Sohn mit dem Opa unterwegs, Hülya sitzt entspannt in ihrem Rollstuhl im Wohnzimmer, trinkt Kaffee. Ihr Mann Dennis steht mit seiner Kamera auf dem Balkon und fotografiert ausnahmsweise nicht seine Frau, sondern die Landschaft.
2017 legte das Paar aus Weissach im Tal einen Instagram-Account an. Dennis, im Hauptberuf Lehrer, hat schon immer hobbymäßig fotografiert, Hülya steht gerne vor der Kamera. 2004 wurde sie zur „Rollstuhlfahrerin des Jahres“ gewählt. Auf ihrem gemeinsamen Kanal @huelya_dennis veröffentlichen die zwei Fotos von Hülya: daheim auf dem Sofa, bei Spaziergängen im Wald mit dem Rollstuhl oder mit Beinprothesen in der Boutique, die Hülya mit Dennis’ Mutter betreibt und für die sie bis vor der Elternzeit die Buchhaltung gemacht hat – neben ihrem Vollzeitjob bei der Handwerkskammer der Region Stuttgart, wo sie als Seminarmanagerin angestellt ist.
Dass die 37-Jährige im Rollstuhl sitzt, ist nicht die Folge eines Unfalls, sondern einer Krankheit. 1983 kam Hülya mit Dysmelie, schweren Fehlbildungen an den Händen und Beinen, zur Welt. Mit gerade einmal zwei Monaten wurde sie zum ersten Mal operiert. Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr war sie ständig im Krankenhaus. Immer wieder hatte sie Druckstellen, Entzündungen. Obwohl diese Zeit alles andere als einfach war, hat Hülya sie positiv in Erinnerung. „Wenn ich daran zurückdenke, habe ich die liebevollen Gesichter der Krankenschwestern vor Augen“, erzählt sie. „Man könnte die vielen Operationen und die Krankenhausaufenthalte natürlich auch als etwas Negatives sehen. Ich sehe es eher so, dass sie mich zu der Person gemacht haben, die ich heute bin.“
Das zu akzeptieren, was ist, das war schon früh Hülyas Art. „Als kleines Kind habe ich einmal zu meiner Mutter gesagt: ‚Vielleicht ist es ja zu etwas gut, vielleicht kann ich anderen damit helfen‘“, erinnert sie sich. „Ich hatte eigentlich schon immer das Gefühl: Es ist nicht schlimm, dass es so ist.“ Und das, obwohl ihre beiden jüngeren Schwestern den Gendefekt nicht von ihrem Vater geerbt haben. Hülya ist überzeugt, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat – „was auch immer das ist“. Sie hat sich früh dafür entschieden, gut mit ihrem zu leben, auf die positiven Seiten zu blicken, welche die Krankheit mit sich bringt. „Manchmal habe ich den Eindruck, dass ich den Menschen ganz anders begegnen, andere Gespräche mit ihnen führen kann“, sagt sie. „Natürlich gibt es aber auch Tage, an denen es mir nicht so gut geht.“
„Ich hatte Angst, dass wieder etwas schiefgehen würde.“
Schwierig war für sie der Verlust ihrer Beine mit 18 Jahren. Bis dahin hatten die Ärzte abgewartet, wie ihr Körper sich entwickeln würde. Als Kind hatte sie oft Schienen getragen, eine Dauerlösung war das jedoch nicht. Zuerst wurde das rechte Bein amputiert, das linke wollten die Ärzte erhalten. Nach vier Wochen löste und entzündete sich allerdings die Titanschraube, die sie unter dem Fuß eingesetzt hatten. Eine zweite Operation war unvermeidbar. „Ich wollte das erst nicht“, sagt Hülya. „Ich hatte Angst, dass wieder etwas schiefgehen würde.“ Der Abschied von ihrem Bein, einem Körperteil, das sie 18 Jahre lang begleitet hatte, fiel ihr schwer. „Bei dem zweiten Bein war es auf einmal so endgültig“, sagt sie. „Das war tatsächlich nicht so toll. Aber ich habe mich schnell wieder aufgerafft.“
Ihre innere Kraft – Resilienz, wie man heute wohl dazu sagen würde – schöpft Hülya auch aus ihrer Zeit im Internat im nordrhein-westfälischen Wetter an der Ruhr. Neun Jahre, von 15 bis 24, besuchte sie die Schule für körperbehinderte Menschen, wo sie auch eine Ausbildung zur Bürokauffrau machte. „Das war eine unglaublich prägende Zeit für mich“, sagt Hülya, „für die bin ich sehr dankbar.“ Im Internat konnte die Jugendliche neben dem regulären Unterricht Sport treiben, schwimmen und Theater spielen. „Dort habe ich erkannt, welche Fähigkeiten ich habe“, erklärt sie. Aber auch durch das Zutrauen ihrer Lehrer und Mitschüler habe sie viel Selbstvertrauen bekommen. In der Grundschule war sie von manchen Mitschülern gehänselt worden.
Ihren ersten Job als Rezeptionistin in einem Seniorenheim bekam sie in Hagen, Nordrhein-Westfalen, – der Stadt, in der sie geboren und aufgewachsen ist. Über eine gemeinsame Bekannte lernte sie 2014, bei Facebook, Dennis kennen. Ein paar Wochen chatteten sie, dann trafen sie sich in der Mitte zwischen ihren Wohnorten, in Frankfurt. In einer Kneipe redeten sie stundenlang. „Er hat sich erst nicht getraut, mir zu sagen, dass ich schon seit einer halben Stunde auf seinem Fuß stehe, weil er sich nicht sicher war, wie ich reagieren würde“, erzählt sie. „Wir haben uns beide kaputtgelacht.“
Ein Jahr führte das Paar eine Fernbeziehung, 2015 wagte Hülya den Umzug nach Baden-Württemberg. Eine große Umstellung: „In Hagen habe ich mitten in der City gewohnt. Alles war schrill, laut – ich fand das super“, sagt sie. An die Stille auf dem Land musste sie sich erst gewöhnen. Und daran, so weit weg von der Familie und ihren Freunden zu leben. „Anfangs hatte ich Heimweh“, so Hülya. Jetzt würde sie nicht mehr weg wollen: „Es ist total schön, hier zu wohnen.“
Dabei war der Anfang auch beruflich nicht ohne Hürden. Manche Arbeitgeber hatten Vorurteile gegenüber der schwerbehinderten Bewerberin. Auch das ist ein Grund, warum sie Bilder von sich in den sozialen Medien zeigt. „Das Problem ist, dass Menschen in Schubladen gesteckt werden“, sagt Hülya. Sie möchte dazu beitragen, die Sichtweise auf Leute mit Handicap zu normalisieren. Nur so, sagt sie, können Berührungsängste verschwinden. Das Schönste an Instagram ist für sie aber der Kontakt mit anderen. Ihr Kanal hat mittlerweile fast 30000 Follower. Viele wenden sich mit Fragen oder Ängsten an Hülya, zum Beispiel vor einer Amputation. Und dann war da noch diese Frau, die dachte, sie könne keine Kinder bekommen, weil sie im Rollstuhl sitzt. Bis sie ein Foto von Hülya und Rangi sah. „Es ist schön, zu sehen, dass die Bilder Menschen Mut machen und sie bewegen“, sagt Hülya. Es ist viel mehr, als sie sich anfangs erhofft hatte.
In der Serie Mutmacher-Geschichten berichten wir über Menschen, die ihr Glück gefunden haben, die schwierige Situationen gemeistert und ihre Träume verwirklicht haben. Damit setzen wir einen Gegenpol zu all den negativen Nachrichten, die jeden Tag in der Zeitung stehen.