Nur zehn Stimmen mehr für den Zusammenschluss
50 Jahre Gemeindereform: Während es viele Erbstettener nach Backnang zog, suchten die Burgstaller von Anfang an den Anschluss an die Nachbargemeinde. Die Gesamtgemeinde Burgstetten, zu der auch der Weiler Kirschenhardthof gehört, entstand dank einer hauchdünnen Stimmenmehrheit in Erbstetten.
Von Melanie Maier
Burgstetten. Der Tag, an dem die zwei Nachbargemeinden Burgstall an der Murr, Erbstetten und der Weiler Kirschenhardthof zusammenfanden, lässt Margarete Bauer auch 50 Jahre später noch immer nicht ganz los. Jedes Jahr am 1. August wird sie an die Ereignisse von damals erinnert, sagt die ehemalige Rathausmitarbeiterin.
1965 fing sie als „Mädchen für alles“ im Rathaus von Erbstetten an. 2015, 50 Jahre danach, ging die Verwaltungsangestellte in Rente. Die Gemeindereform Anfang der 1970er-Jahre habe sie damals, mit knapp 22 Jahren, sehr belastet, berichtet die heute 71-Jährige. „Die ganze Geschichte war sehr emotional“, erinnert sich Margarete Bauer. In Erbstetten hätten die Zerwürfnisse die Einwohnerschaft entzweit. „Das ging so weit, dass zwei Nachbarskinder, die vorher täglich miteinander gespielt haben, sich auf einmal nicht mehr treffen durften“, berichtet sie. Auch im Gemeinderat ging es hoch her. Und der damalige Bürgermeister Karl Müller und seine Frau mussten sich sogar mit Anfeindungen auseinandersetzen.
Zwei Sitze im Gemeinderat waren für Erbstetten in Backnang vorgesehen
Denn als feststand, dass die Gemeindereform kommen würde, waren bei Weitem nicht alle Erbstettener davon angetan, sich mit Burgstall zusammenzuschließen. Viele zogen die Angliederung an Backnang vor. Wie weit diese Überlegungen gingen, das bezeugen Akten im Burgstettener Rathaus. In dem 14-seitigen Entwurf einer „Vereinbarung über die Eingliederung der Gemeinde Erbstetten in die Stadt Backnang“ steht etwa, dass die zukünftigen Stadtteile die Bezeichnung „Backnang-Erbstetten“ beziehungsweise „Backnang-Kirschenhardthof“ führen sollten. Zwei Sitze im Gemeinderat sowie ein Ortschaftsrat mit zehn Mitgliedern waren für die Teilorte in Backnang vorgesehen. Die Vereinbarung sollte am 1. Januar 1972 in Kraft treten.
Nach der Zielplanung des Innenministeriums war zuvor bereits eine andere Lösung im Raum gestanden: Erbstetten sollte mit den Gemeinden Waldrems, Maubach und Heiningen zusammengeschlossen werden, Burgstall zusammen mit Rielingshausen nach Kirchberg eingegliedert werden.
Dass es anders gekommen ist, ist nicht zuletzt Erich Schneider zu verdanken. Er war damals Bürgermeister von Burgstall und zugleich für die CDU im Landtag. Als Abgeordneter war er in ganz Baden-Württemberg unterwegs, um für die Gemeindereform zu werben. In Neureut, das später nach Karlsruhe eingemeindet wurde, hätten aufgebrachte Bürger mit faulen Tomaten nach ihm geworfen, erzählt der heute 88-Jährige. So sehr eskalierte es in Burgstetten glücklicherweise dann doch nicht.
Mit der amtierenden Bürgermeisterin Irmtraud Wiedersatz und seiner Frau Gretel sitzt Erich Schneider an diesem Vormittag auf seiner Terrasse und berichtet von den turbulenten Jahren 1970 und 71. Schneider und seine Frau wohnen nach wie vor in Burgstall. 1960 übernahm er das Bürgermeisteramt im Ort. Er behielt es bis 1979.
Die Auseinandersetzungen im Zuge der Gemeindereform bezeichnet Schneider als „letzten Kampf mit Backnang“. „Backnang hat seine Fühler nach allen Seiten ausgestreckt“, sagt er. „Es ging hart her, bis zu persönlichen Beleidigungen.“ „Bis zu Morddrohungen“, präzisiert Bürgermeisterin Irmtraud Wiedersatz. Ihr Vorgänger wiegelt ab: „Es gab ja einen guten Ausgang.“
Richtig los gingen die Überlegungen am 27. Mai 1970 mit einer nicht öffentlichen Sitzung beider Gemeinderäte in Anwesenheit des Landrats Wilhelm Schippert. Es wurde beschlossen: Eine Vereinigung soll angestrebt werden. Doch nach einer Bürgerversammlung am 12. Dezember in Erbstetten gingen die Wogen hoch. Bald darauf kursierte ein Flugblatt, das mit elfmal „Nein“ betitelt war. Es gab selbstredend auch noch andere Stimmen in Erbstetten. Margarete Bauers Vater etwa war vehement gegen den Anschluss an Backnang. Er stammte aus der Gemeinde Steinbach, die 1941 in die Kreisstadt eingemeindet worden war. „Zeitlebens waren wir das fünfte Rad am Wagen“, sagte er zu seiner Tochter.
Auf die Verhandlungszielgerade ging es mit einer weiteren Bürgerversammlung am 5. Juni 1971 in Erbstetten. Dazu waren auch Martin Dietrich, der damalige Oberbürgermeister Backnangs, und Erich Schneider eingeladen worden. „Dann ging das hin und her“, sagt Schneider. Von seinem Gemeinderat wäre Karl Müller gedrängt worden, weiter mit Backnang zu verhandeln. „Es gab also zwei Möglichkeiten: Die Eingliederung nach Backnang oder dass die Gemeinden Erbstetten und Burgstall Ehe schließen.“
Die Gemeinderäte in Burgstall waren von Anfang an für den Zusammenschluss, sagt Schneider. Ein Stadtteil von Backnang zu werden war für sie keine Option. „Und nach Kirchberg wollten sie auf keinen Fall.“
Obwohl die Burgstaller so offensiv um ihre Nachbarn warben, war es doch eine Zitterpartie, als am 13. Juni 1971 abgestimmt wurde. Während in Burgstall 538 Personen für die Vereinigung votierten (57 dagegen), scheiterte der Zusammenschluss mit Backnang aus Erbstettener Sicht an zehn Stimmen (306 Ja-Stimmen gegenüber 296 Nein-Stimmen). Im Nachgang wurde die Wahl sogar angefochten, sagt Margarete Bauer. Es hieß, die Wahlhelfer hätten Einsicht in die Unterlagen gehabt. „Aber das war Quatsch“, betont sie. „Einige waren einfach nicht mit dem Ergebnis zufrieden.“ Das Regierungspräsidium musste das vor Ort überprüfen und kam zu dem Schluss, dass alles mit rechten Dingen zugegangen war. Somit stand der Zusammenschluss fest. Die feierliche Unterzeichnung der Vereinbarung durch die beiden Bürgermeister fand am 10. Juli 1971 statt. Vom Land erhielt die neue Gemeinde 1,2 Millionen DM.
Es habe gedauert, bis die Wunden verheilt waren, sagt Margarete Bauer. Und „manche Narben werden geblieben sein“, ist sie sicher. „Einige von denen, die nach Backnang tendiert haben, hatten noch Jahre danach Schwierigkeiten damit, zu Veranstaltungen in Burgstall zu gehen“, weiß sie. „Das ist heute Gott sei Dank nicht mehr so! Burgstetten ist zusammengewachsen, das sieht man schon an den Vereinsnamen.“
„Er hat schon danach geschaut, dass niemand bevorzugt wird“
Den größten Verdienst daran schreibt Margarete Bauer Altbürgermeister Erich Schneider zu. „Er hat schon danach geschaut, dass niemand bevorzugt wird“, sagt sie. Sei es bei Neubauten oder beim Gässlefest, das die Ortsteile abwechselnd ausrichten. „Das hat schon auch dazu beigetragen, einen Gemeinschaftssinn zu entwickeln.“
Am 10. Oktober 1971 wurde Schneider zum Bürgermeister der neuen Gemeinde gewählt, Karl Müller ging in den Ruhestand. Bis dahin dienten er und sein Kollege als Amtsverweser. „Ich habe mir gut überlegt, ob ich das machen soll“, gibt Schneider zu. „Aber es wäre sehr unschön gewesen, wenn ich nicht kandidiert hätte.“ In den Jahren darauf wäre es auf alle angekommen, ob aus Burgstetten wird, was man sich vorgestellt hatte: auf den Bürgermeister, auf die Gemeinderäte, die Verwaltung und die Bürger. Er sei „besonders dankbar dafür, dass die Rechnung aufgegangen ist“, sagt Schneider. „Im Nachhinein“, fügt Irmtraud Wiedersatz hinzu, „haben sogar die Gegner gesagt, dass es gut war, dass es so gekommen ist.“ Er selbst habe sich als Geburtshelfer gefühlt, nicht als Gründer Burgstettens, sagt Erich Schneider. Von Anfang an habe er behauptet, „dass das eine schöne, neue, blühende Gemeinde wird! Aber das war nur Zukunftsmusik“, räumt er ein. „Ich wusste ja auch nicht, wie das ausgehen würde.“
50 Jahre ist der Zusammenschluss nun her. Eigentlich ein Grund zu feiern. Doch wegen der Coronapandemie musste das Fest zur „goldenen Hochzeit“ ausfallen. „Vielleicht“, sagt Wiedersatz, „machen wir im Herbst noch einen Bürgerempfang.“
Einwohner Zirka 3650 Einwohner leben in Burgstall an der Murr, Erbstetten sowie
Kirschenhardthof auf 1029 Hektar Fläche.
Name Als neuer Name der Gemeinde war neben Burgstetten auch „Söllbach“ im Gespräch, nach der gemeinsamen Wasserversorgungsgruppe. Bei Gegnern des Zusammenschlusses war von „Erbstall“ die Rede.
Wappen Auch die Wappen der Gemeinde wurden zusammengelegt. Über den Wolfseisen Burgstalls ruht das Erbstettener Auge; für Erich Schneider „das Auge Gottes“: „Nach meinem Denken liegt ein besonderer Segen auf dem Zusammenschluss.“