Schuhe binden geht auch mit einer Hand
Andrea Kaufmann ist 23 Jahre alt, als ein Schlaganfall ihr Leben auf den Kopf stellt. Am Anfang ist sie ein Pflegefall, doch Schritt für Schritt kämpft sie sich zurück und lernt vieles neu. Heute hadert sie nicht mehr mit ihren Einschränkungen, sondern ist dankbar für das, was sie hat.

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Einhändig Eier aufschlagen ist für Andrea Kaufmann kein Problem. Seit einem Schlaganfall vor 20 Jahren ist die linke Hand der 43-Jährigen gelähmt. Foto: A. Becher
Von Kornelius Fritz
Backnang. „Eigentlich war alles perfekt“, sagt Andrea Kaufmann, wenn sie an den Sommer 2001 zurückdenkt. Ein Jahr zuvor haben sie und ihr Mann Andreas geheiratet, das junge Paar hat ein Haus in Backnang bezogen und auch ihr Kinderwunsch hat sich schnell erfüllt. Im Februar 2001 kommt Tochter Lena Vanessa zur Welt. Doch dann kommt der 31. Juli, der Tag, der ihr Leben auf den Kopf stellt. „Ich war im Backnanger Freibad und habe mich gerade mit einem Feuerwehrkameraden meines Mannes unterhalten, als mir plötzlich schwindelig wurde“, erinnert sich Andrea Kaufmann. Kurz darauf verliert sie das Bewusstsein. Der Bademeister alarmiert den Rettungsdienst, der sie ins Backnanger Krankenhaus bringt. Von dort wird sie noch am selben Tag ins Bürgerhospital nach Stuttgart verlegt. Diagnose: schwerer Schlaganfall. Mit 23 Jahren.
An die folgenden Tage hat Andrea Kaufmann nur lückenhafte Erinnerungen. Als sie wieder zu sich kommt, ist ihre komplette linke Körperhälfte gelähmt. Die aktive junge Frau, die oft mit ihren Inlineskates unterwegs war, ihre Wohnung selbst tapeziert und jeden Ikea-Schrank zusammengebaut hat, ist von einem Tag auf den anderen zu einem Pflegefall geworden. Ohne fremde Hilfe geht am Anfang fast nichts mehr, fortbewegen kann sie sich nur noch im Rollstuhl. Und was für die junge Mutter besonders schlimm ist: Sie kann sich nicht mehr um ihr Baby kümmern.
„Wir haben viel geheult und viel geredet“, erinnert sich Andrea Kaufmann an die erste Zeit. Dass ihr Mann unbezahlten Urlaub nimmt und fast rund um die Uhr an ihrer Seite ist, macht es ihr etwas leichter, auch Großeltern und Freunde sind zur Stelle und helfen, wo sie können. Irgendwann beschließt Andrea Kaufmann, dass es weitergehen muss und sie setzt sich Ziele: „Ich wollte wieder laufen und mit meiner Tochter spielen können.“ Die Ärzte machen ihr Hoffnung: Bei einem Schlaganfall in jungen Jahren seien die Chancen auf vollständige Genesung groß.
In der Reha kämpft sich die junge Frau über Monate ganz langsam zurück. „Man muss alles wieder von vorne lernen“, erzählt die Backnangerin. Was in den Hirnregionen gespeichert war, die durch den Sauerstoffmangel beim Schlaganfall geschädigt wurden, bleibt für immer verloren. Andere Teile des Gehirns können diese Aufgaben teilweise übernehmen, aber das ist ein mühsamer Lernprozess: „Man glaubt nicht, wie kompliziert es ist, von einem Stuhl aufzustehen“, sagt die 43-Jährige. Jeder Fortschritt ist aber auch neue Motivation: Nach einigen Monaten kann sie tatsächlich wieder ohne Hilfe gehen, der Rollstuhl wandert in den Keller.
Doch nicht alles kommt zurück: Andrea Kaufmanns linke Hand ist bis heute gelähmt. Hinzu kommen Einschränkungen, die man ihr nicht anmerkt: „Ich bin nicht mehr so belastbar“, sagt die 43-Jährige. Sich länger zu konzentrieren, fällt ihr nach wie vor schwer. Vier Stunden pro Woche arbeitet die gelernte Einzelhandelskauffrau inzwischen wieder bei ihrem früheren Arbeitgeber am Empfang. Wenn sie anschließend nach Hause kommt, ist sie so kaputt, dass sie sich erst einmal hinlegen muss.
Viel lieber als über ihre Einschränkungen spricht Andrea Kaufmann aber über das, was sie wieder kann. Und das ist eine ganze Menge: Die 43-Jährige fährt Auto, backt Kuchen, sogar ihre Schuhe kann sie mittlerweile mit einer Hand binden. „Ich bin ein sehr geduldiger Mensch und probiere alles so lange, bis es funktioniert“, sagt die Backnangerin. Über das Internet tauscht sie sich dabei auch mit anderen Betroffenen aus, zum Beispiel in einer Facebook-Gruppe für einhändiges Kochen.
Andrea Kaufmann ist stolz darauf, was sie sich alles beigebracht hat. „Meine Ergotherapeutin sagt immer, ich solle Motivationstrainerin werden“, erzählt sie lachend. Allerdings weiß sie auch, dass der Kampf noch nicht zu Ende ist: „Die Therapie geht ein Leben lang und es kann auch wieder Rückschritte geben.“ Auch 20 Jahre nach ihrem Schlaganfall geht sie zweimal pro Woche zur Physiotherapie. Die einseitige Belastung führt mittlerweile auch zu Problemen auf der gesunden rechten Seite.
Die Frage, warum gerade sie in so jungen Jahren einen Schlaganfall bekommen musste, hat sich Andrea Kaufmann oft gestellt, heute weiß sie, dass es darauf keine Antwort gibt. Statt mit ihrem Schicksal zu hadern, ist sie dankbar für das, was sie hat. Für den Rückhalt der Freunde, die sie, als sie im Rollstuhl saß, auch mal mit dem Feuerwehrauto abgeholt haben, damit sie bei einem Fest dabei sein konnte. Für den quirligen Chihuahua-Mischling Budd, der sie täglich auf Trab hält und trübe Gedanken mit einem Schwanzwedeln vertreibt. Vor allem aber für ihren Mann Andreas, der immer zu ihr gehalten hat, obwohl die gemeinsame Zukunft ganz anders aussah, als sie beide es sich bei ihrer Hochzeit vorgestellt hatten. Wie dankbar Andrea Kaufmann ihm dafür ist, konnte übrigens ganz Deutschland im Fernsehen miterleben: Im Dezember 2006 überraschte sie ihren Mann zusammen mit Moderator Kai Pflaume in der TV-Show „Nur die Liebe zählt“.
Schlaganfall Unter dem Oberbegriff Schlaganfall werden verschiedene krankhafte Veränderungen im Gehirn zusammengefasst. Beim Hirninfarkt wird die Blutversorgung des Gehirns durch einen Gefäßverschluss blockiert oder eingeschränkt. Bei einer Hirnblutung dringt Blut aus einem gerissenen Blutgefäß in das umliegende Hirngewebe ein. In beiden Fällen kommt es zu einer Mangeldurchblutung der dahinterliegenden Hirnareale. Je nach betroffener Hirnregion entstehen dadurch Störungen oder Ausfälle verschiedener Körperfunktionen.
Statistik In Deutschland erleiden jährlich rund 260000 Menschen einen Schlaganfall. Schlaganfälle sind die dritthäufigste Todesursache. Betroffen sind überwiegend ältere Menschen, in fünf bis zehn Prozent der Fälle sind die Patienten allerdings jünger als 50 Jahre. Sogar Kinder können einen Schlaganfall bekommen.
Symptome Die häufigsten Symptome sind Sehstörungen, Sprach- und Sprachverständnisstörungen, Lähmungen und Taubheitsgefühle, Schwindel mit Gangunsicherheit sowie sehr starke Kopfschmerzen.
Test Mit einem einfachen Test lässt sich der Verdacht auf Schlaganfall überprüfen.
1. Bitten Sie die Person zu lächeln. Hängt ein Mundwinkel herab, deutet das auf eine Halbseitenlähmung hin.
2. Bitten Sie die Person, die Arme nach vorne zu strecken und dabei die Handflächen nach oben zu drehen. Bei einer Lähmung können nicht beide Arme gehoben werden, ein Arm sinkt oder dreht sich.
3. Lassen Sie die Person einen einfachen Satz nachsprechen. Geht das nicht oder die Stimme klingt verwaschen, liegt vermutlich eine Sprachstörung vor.