Sie bauen Apfelsammler und Stoßdämpfer

Murrhardter Werkstatt der Paulinenpflege Winnenden bietet Menschen mit Behinderung Arbeitsplatz – Vielfältige Montageaufträge

Egal, wo die Stärken und Schwächen eines Mitarbeiters liegen, ob er eine geistige, körperliche oder psychische Behinderung hat, in der Murrhardter Werkstatt der Paulinenpflege hat er einen Arbeitsplatz, der seinen Fähigkeiten entspricht. Die Beschäftigten bearbeiten im Auftrag der Industrie Metall- und Kunststoffteile und erledigen Montage- und Verpackungsaufträge.

Blick in die Werkstatträume: Peter Bosch und Thomas Maurer (von links) an ihrem Montagearbeitsplatz. Insgesamt sind in der Murrhardter Einrichtung rund 100 Menschen beschäftigt. Fotos: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Blick in die Werkstatträume: Peter Bosch und Thomas Maurer (von links) an ihrem Montagearbeitsplatz. Insgesamt sind in der Murrhardter Einrichtung rund 100 Menschen beschäftigt. Fotos: J. Fiedler

Von Annette Hohnerlein

MURRHARDT. Nico Dollmann baut an seinem Arbeitsplatz einen sogenannten Rollblitz zusammen. Dies ist ein Drahtroller, mit dem man Äpfel oder Nüsse vom Boden aufsammeln kann, ohne sich bücken zu müssen. Geschickt fädelt er die dünnen Drahtbögen in die Halterungen ein. Eine Arbeit, die Geduld und einiges Fingerspitzengefühl erfordert. Beides hat Nico. Er liebt seine Arbeit und ist stolz darauf, in der Werkstatt tätig zu sein. In einem anderen Raum montiert Thomas Maurer Schlüsselanhänger. Gerne demonstriert der freundliche Mann, wie das geht: ein Stück Karton und ein transparentes Kunststoffplättchen werden in den Schlitz des blauen Anhängers geschoben – fertig. Zum Abschied ruft er der Frau von der Presse nach: „Einen Gruß an die Zeitung!“ Ein paar Tische weiter setzt Stefanie Neumann mithilfe einer speziellen Maschine Spülventile zusammen, die ein Hersteller von Wasseraufbereitungssystemen in Auftrag gegeben hat.

„Es gibt keinen Behindertenbonus, weder bei der Qualität noch bei den Lieferterminen“, betont Annette zu Jeddeloh, Fachleiterin berufliche Bildung und zuständig für den Sozialdienst. Deshalb werde in den meisten Fällen eine 100-prozentige Kontrolle durchgeführt, das heißt, jedes einzelne Teil wird auf Fehler geprüft. Oft führen selbst kleinste Abweichungen von den Vorgaben dazu, dass ein Teil in der Kiste für Ausschuss landet.

1989 wurde die Werkstatt mit 40 Beschäftigten und 10 Betreuern als Ableger der Backnanger Werkstatt eröffnet, die aus allen Nähten platzte. Von Anfang an mit dabei war auch ein sogenannter Förder- und Betreuungsbereich, in dem Menschen den Tag verbringen, die nicht in der Lage sind, in einer der Werkstätten zu arbeiten. Gleichzeitig wurde auch der Berufsbildungsbereich installiert, in dem die Beschäftigten in einer Art Ausbildung auf ihre Tätigkeit in den Arbeitsgruppen vorbereitet werden. Bei der Suche nach einer geeigneten Immobilie wurde man beim Gebäude einer ehemaligen Pelzfabrik in der Chemnitzer Straße fündig. Später kam die Halle eines ehemaligen Sanitärbetriebs auf einem benachbarten Grundstück dazu.

Stand die Werkstatt in den ersten Jahren nur für Menschen mit geistiger Behinderung offen, wurden nach ein paar Jahren auch Beschäftigte mit Seh-, Hör- und Körperbehinderungen aufgenommen. Seit sechs Jahren ist die Murrhardter Werkstatt auch ein Standort für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Neu seit diesem Jahr ist das Modell „Werkstatttransfer“, das es auch Mitarbeitern mit höherem Betreuungsbedarf ermöglicht, im Arbeitsbereich tätig zu sein. Drei Mitarbeiter sind derzeit auf sogenannten Außenarbeitsplätzen beschäftigt, das heißt, sie arbeiten außerhalb der Werkstatt in einem Seniorenheim, in der Gastronomie und in der Verwaltung einer Firma.

Insgesamt hat die Einrichtung heute rund 100 Beschäftigte, die von gut 20 Betreuern unterstützt werden.

Wie in vielen Firmen gibt es auch hier eine Mitarbeitervertretung, den Werkstattrat. Nadine Steudle und Hans-Joachim Wehnert nehmen regelmäßig an Sitzungen teil und vertreten die Interessen ihrer Kollegen, zum Beispiel in einem Arbeitskreis, in dem die Veranstaltung zum 30-jährigen Bestehen der Werkstatt geplant wurde.

Die monatliche Vergütung der Mitarbeiter im Arbeitsbereich besteht aus dem Grundlohn von derzeit 80 Euro, dem Arbeitsförderungsgeld in Höhe von 52 Euro und einem leistungsabhängigen Steigerungsbetrag von bis zu 250 Euro. Die Betreuung wird aus Mitteln der Eingliederungshilfe finanziert. Kostenträger dafür ist unter anderem das Kreissozialamt beim Landratsamt.

Auftraggeber sind größtenteils Firmen aus Baden-Württemberg, viele davon aus der Automobil- und Zulieferindustrie. Die Metall- und Kunststoffteile, die von den Beschäftigten zugesägt, gefräst, gebohrt, montiert und verpackt werden, kommen in den verschiedensten Bereichen zum Einsatz: in der Bau- und Elektrobranche, im Messe- und Automobilbau. Es erfüllt die Mitarbeiter mit Stolz, wenn sie für einen bekannten Hersteller arbeiten und sogar ein T-Shirt mit dessen Firmenlogo tragen, erzählt Annette zu Jeddeloh. „Sie identifizieren sich damit und sagen: Im Audi A6 fährt das Rohr, das ich gefertigt habe.“ In einer Montagegruppe, die auf besonders komplexe Arbeitsgänge spezialisiert ist, werden regelmäßig Teile für Touren-Rennwagen gefertigt, zum Beispiel Stoßdämpfer oder Klimaanlagen. Deshalb trägt die Abteilung den Spitznamen „Rennsportabteilung“.

Im Gegensatz zu anderen Werkstätten werden die Mitarbeiter in Murrhardt nicht nach körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen separiert. Und die Erfahrungen sind gut: „Diese Mischung in den Arbeitsgruppen funktioniert hervorragend“, hat Annette zu Jeddeloh festgestellt. Wo allerdings noch Luft nach oben ist, ist das Thema Außenarbeitsplätze. „Viele Beschäftigte würden gerne rausgehen“, sagt die Diplom-Sozialpädagogin, „aber die Betriebe tun sich sehr schwer, trotz großer finanzieller Anreize. Bei der Teilhabe am Arbeitsmarkt muss sich noch manches tun.“

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Erstellt:
14. November 2019, 16:00 Uhr

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