Wandel lässt Bedarf wachsen
Analyse des Landesjugendamts macht Ursachen für steigende Jugendhilfeausgaben deutlich
Wieso steigen die Ausgaben in der Jugendhilfe immer weiter an – bei gleichzeitig rückläufigen Kinderzahlen? Antworten auf diese und andere Fragen gab der Sozialwissenschaftler Ulrich Bürger vom Landesjugendamt im Kreis-Jugendhilfeausschuss. Danach erhöhen Armut und schwierige Familienverhältnisse die Wahrscheinlichkeit, erzieherische Hilfen in Anspruch nehmen zu müssen.
Von Armin Fechter
WAIBLINGEN. Alle fünf Jahre untersucht das Landesjugendamt die Entwicklungen und Rahmenbedingungen – landesweit, aber auch bezogen auf die einzelnen Landkreise. Dieses Mal umfasst die Analyse den Zeitraum von sechs Jahren, von 2011 bis 2017.
Die Zahlen, die Ulrich Bürger den Mitgliedern des Jugendhilfeausschusses jetzt präsentierte, zeigen zunächst eines: In den zurückliegenden Jahren sind im Rems-Murr-Kreis „dringende und notwendige Nachholprozesse“ abgelaufen, etwa bei den ambulanten und teilstationären Hilfen, wo die Fallzahlen um 45 Prozent gestiegen sind. Dazu zählen unter anderem Erziehungsbeistandschaften und soziale Gruppenarbeit. Zugenommen haben auch die Fallzahlen bei den stationären Hilfen, also bei Heimerziehung und Unterbringung in Pflegefamilien, nämlich um 21 Prozent. Die Werte im Kreis liegen damit deutlich über dem Landesdurchschnitt, wo etwa bei ambulanten und teilstationären Hilfen nur ein Plus von 10 Prozent registriert wurde.
Dennoch ergibt sich im Landkreisvergleich, dass der Rems-Murr-Kreis, etwa bei den stationären Hilfen, im Mittelfeld liegt. Das Gleiche gilt für die Ausgaben: Die 352 Euro, die der Landkreis statistisch gesehen pro jugendlichen Einwohner aufwenden muss, markieren im Landkreisvergleich fast genau die Mitte. Und das sei, wie Bürger deutlich machte, „erstaunlich gering“. Denn ein Blick auf die Lebenslagen der Bevölkerung zeigt nach den Worten des Experten, dass der Rems-Murr-Kreis mit Risikofaktoren relativ stark belastet ist.
Beim Vergleich der materiellen Situation, in der Kinder und Jugendliche aufwachsen, ergeben sich große Unterschiede: Minderjährige aus Familien, die auf Stütze angewiesen sind, benötigen sehr viel häufiger stationäre Hilfen als andere. Im einen Fall ist es eins von 17 Kindern, im anderen eins von 390. Das Risiko liegt damit 22-mal höher, rechnete Bürger vor und wies darauf hin, dass die Lebenslage Armut im ansonsten wohlhabenden Baden-Württemberg weiter zunehme und folglich auch mit einem weiteren Anstieg der Fallzahlen zu rechnen sei.
Noch krasser fallen die Unterschiede je nach Familienverhältnissen aus. Bei Kindern, die bei beiden Eltern aufwachsen, landet nur eines von 637 in einer stationären Hilfe. Bei Kindern von Alleinerziehenden ist eines von 35 betroffen und bei Kindern in einer Stiefelternkonstellation sogar eines von 12. Das Risiko ist damit um den Faktor 18 beziehungsweise 54 erhöht. Bürger resümierte, die Familienkonstellation habe also noch deutlicher Einfluss als Armutslagen. Die statistischen Ergebnisse bedeuteten aber nicht, fuhr Bürger fort, dass in Patchworkfamilien weniger liebevolle Erziehung geleistet werde. Allerdings spitzten sich Problemlagen dort eher zu, und Erziehende kämen häufiger an die Grenzen der Überforderung. Aber auch da: Stiefelternverhältnisse nehmen im Zuge des gesellschaftlichen Wandels weiter zu.
Arbeitslosenquote und Hartz-IV-Bezug weisen dem Rems-Murr-Kreis im Landkreisvergleich einen Platz im oberen Drittel zu, sprich: Er ist stärker belastet. Gleichzeitig liegt das verfügbare Einkommen der Kreisbewohner über dem Landesdurchschnitt. Bürger: „Die Schere geht relativ stark auseinander.“
Auf diese Umstände und die damit verbundene Zunahme der Arbeitsbelastung in den sozialen Diensten hat der Rems-Murr-Kreis mit einem personellen Ausbau reagiert, lobte Bürger, der Kreis zeige da „ein starkes Profil“. Anerkennende Worte fand er auch für das Engagement in puncto Schulsozialarbeit und an der Schnittstelle zwischen Schule und Beruf.
Landrat Richard Sigel zeigte sich erfreut, „aus berufenem Mund“ zu hören, „dass die Richtung stimmt“. Bettina Jenner-Wanek (CDU) äußerte sich geschockt über die Erkenntnisse zu Stiefelternkonstellationen, in denen, wie Bürger weiter erläuterte, Kinder die Erfahrung machen, dass sie einen Elternteil verlieren und nur ein sicherer Anker bleibt. Kommt der neue Partner dazu, beginnen häufig Test- und Machtkämpfe, es entstehen Konkurrenzsituationen und vielleicht Rebellion, zudem kann der getrennte Partner Zwietracht säen. Das sei vermintes Gelände, sagte Bürger. Zudem empfahl er mit Blick auf die Kommunen, mehr für die Kinderbetreuung zu tun, da gebe es noch eine Herausforderung.

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„Für viele Kinder und
Jugendliche vollzieht sich ein Wandel in den
Rahmenbedingungen des Aufwachsens.“
Ulrich Bürger, Landesjugendamt