Dramatisches Insektensterben

Wie schon kleine Pestizid-Mengen große Auswirkungen haben

Selbst winzige Mengen von Pestiziden beeinflussen das Verhalten von Insekten stark, auch wenn sie gar nicht das Ziel der Mittel sind. Und: Steigende Temperaturen könnten es noch schlimmer machen.

Klimakrise und Umweltschäden, Lichtverschmutzung und versiegelte Böden: Unterschiedliche menschengemachte Faktoren werden für das seit Jahren beobachtete Insektensterben verantwortlich gemacht, das zu einem dramatischen Rückgang der Tiere führt.

© Imago/Frank Sorge

Klimakrise und Umweltschäden, Lichtverschmutzung und versiegelte Böden: Unterschiedliche menschengemachte Faktoren werden für das seit Jahren beobachtete Insektensterben verantwortlich gemacht, das zu einem dramatischen Rückgang der Tiere führt.

Von Alice Lanzke (dpa)/Markus Brauer

Selbst in Konzentrationen, die zu niedrig sind, um zu töten, können Pflanzenschutzmittel weitreichende Auswirkungen auf das Verhalten von Insekten haben. Das gilt auch dann, wenn diese gar nicht das Ziel der Mittel sind. Zu diesem Schluss kommt eine große Studie, deren Ergebnisse im Fachblatt „Science“ veröffentlicht worden sind.

Deren Autoren untersuchten die Wirkung von über 1000 Chemikalien, die im Pflanzenschutz zum Einsatz kommen und decken so ein „herausragendes“ Spektrum ab, urteilen Experten.

Even at concentrations too low to kill, exposure to widely used agrochemicals has pervasive negative impacts on insect behavior and physiology, researchers report in Science. The findings highlight the need for more comprehensive pesticide assessments. https://t.co/XZClb2m4X6pic.twitter.com/kAKIer4yay — Science Magazine (@ScienceMagazine) October 24, 2024

Immer weniger Insekten sind unterwegs

Klimakrise und Umweltschäden, Lichtverschmutzung und versiegelte Böden: Unterschiedliche menschengemachte Faktoren werden für das seit Jahren beobachtete Insektensterben verantwortlich gemacht, das zu einem dramatischen Rückgang der Tiere führt – auch in Deutschland.

So hatte 2017 eine Studie ehrenamtlicher Insektenkundler des Entomologischen Vereins Krefeld gezeigt, dass die Gesamtmasse an Fluginsekten in Teilen Deutschlands von 1989 bis 2016 um mehr als 75 Prozent abgenommen hat.

Dabei spielten vor allem Pflanzenschutzmittel eine Rolle, stellt das Umweltbundesamt fest: „Sie wirken auf Schadorganismen, indem sie deren grundlegende biologische Prozesse, zum Beispiel Photosynthese, Zellatmung und Reizweiterleitung, stören.“

Derartige Mittel zielen meist auf spezifische Organismen ab, so etwa Insektizide auf Insekten, Herbizide auf Pflanzen und Fungizide auf Pilze. Nach Angaben des Beitrags in „Science“ sind subletale Dosen von Pestiziden – also solche in Konzentrationen, die zu niedrig sind, um die Insekten zu töten – ein bedeutender, aber bislang noch wenig erforschter Faktor für den Insektenrückgang.

Forscher füttern Fruchtfliegen mit Gift

Um diese Wissenslücke etwas zu schließen, führte die Gruppe um Lautaro Gandara vom „European Molecular Biology Laboratory“ (EMBL) in Heidelberg mehrere Versuche durch: Die Forscher untersuchten die Wirkung von über 1000 Agrochemikalien in drei unterschiedlichen Konzentrationen.

Konkret fütterte das Team jeweils 15 bis 30 Fruchtfliegen-Larven (Drosophila melanogaster) in Wachstumskammern mit Flüssignahrung, die jeweils eine bestimmte Konzentration einer chemischen Substanz enthielt.

Mit der Fruchtfliege als Versuchsobjekt traf das Team nach Ansicht von Roel van Klink vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) in Leipzig eine gute Wahl. „Diese ist wahrscheinlich das am besten erforschte Insekt der Welt und lässt sich im Labor leicht züchten“, erklärt der Biodiversitätsforscher.

Anschließend filmten die Forscher das Verhalten der Larven und dokumentierten, wie viele der daraus entstandenen Fliegen nach zehn Tagen noch lebten. Dabei stellten sie fest, dass nur wenige Chemikalien selbst bei der höchsten Konzentration zu einer hohen Letalität führten, wie der leitende Autor Justin Crocker vom EMBL erläutert.

Nicht tödlich, aber doch fatal

Entwarnung bedeuteten diese Ergebnisse indes nicht. Denn bei deutlich mehr als der Hälfte der Substanzen – darunter 382 Nicht-Insektizide – verhielten sich die Larven anders als in der Kontrollgruppe, deren Flüssignahrung keine Pestizide enthielt.

„Wir haben festgestellt, dass die Exposition von Larven gegenüber sehr niedrigen Dosen von Chemikalien weitreichende Veränderungen in den physiologischen Prozessen verursacht, die für ihre Entwicklung und ihr Verhalten von entscheidender Bedeutung sind“, erläutert Erstautor Gandara.

So bewegten sich die Tiere je nach Chemikalie mehr oder weniger, rollten sich oder kontrahierten ihren Körper. Dies könnten Zeichen für Stress sein, der die Entwicklung der Fliegen negativ beeinflussen könnte.

Folgen für die Fitness der Larven

Auch Roel van Klink kommentiert: „Die Tatsache, dass 57 Prozent der Chemikalien irgendeine Art von Reaktion bei den Larven hervorrufen, bedeutet, dass sie die Chemikalien wahrnehmen können und versuchen werden, sie zu vermeiden.“ Dies könne Folgen für die Fitness der Larven haben und möglicherweise zu einer geringeren Reproduktion der Fliegen führen: „Aber das wissen wir noch nicht.“

Wichtig zu betonen sei zudem, dass die Umweltrelevanz durch die Versuche noch nicht vollständig abgedeckt sei, ergänzt Carsten Brühl von der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau. „In den Experimenten wurden Insektenlarven lediglich 16 Stunden lang Pestiziden ausgesetzt, während Insektenpopulationen in der Agrarlandschaft das ganze Jahr über komplexen Mischungen aus niedrigen Konzentrationen verschiedener Pestizide ausgesetzt sind.“

Auf die Temperatur kommt es an

Die Forschergruppe testete auch für 49 der am häufigsten genutzten Pestizide die Wirkungen bei höheren Temperaturen. Auf diese Weise wollte sie klären, inwiefern sich die Effekte im Zuge der Klimakrise verändern könnten.

Tatsächlich stellte das Team fest, dass eine Erhöhung um 2 Grad auf 27 Grad Celsius keinen Effekt, ein Temperaturanstieg um 4 Grad aber „eine ausgeprägte Wirkung“ zeigte. Zum Beispiel habe sich das Insektizid „Lindan“, das in einer Konzentration von 0,2 Mikromolar bei 25 Grad Celsius nicht tödlich war, in den Versuchen bei 29 Grad als stark tödlich erwiesen.

„Überraschend sind sowohl die Vielzahl beobachteter Verhaltensänderungen bei Insekten als auch die Stärke der Effekte bei höheren Temperaturen“, urteilt Christoph Scherber, Leiter des Zentrums für Biodiversitätsmonitoring am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels, in einem unabhängigen Kommentar.

Forscher beobachten Verhaltensveränderungen

Um einen realistischeren Rahmen zu schaffen, untersuchten die Forscher zudem die Wirkung von Mischungen an Pflanzenschutzmitteln, wie sie in der Umwelt nachgewiesen wurden und das in plausiblen Konzentrationen.

„Wir haben einige der am häufigsten nachgewiesenen Chemikalien in der Luft in ökologisch relevanten Dosen gemischt und die Fruchtfliegen diesen erneut ab dem Zeitpunkt des Schlüpfens ausgesetzt“, beschreibt Crocker.

Tatsächlich sei so eine viel stärkere Wirkung festgestellt worden: „Wir beobachteten einen Rückgang der Eiablage um 60 Prozent, was auf einen Populationsrückgang hindeutet, aber auch andere Verhaltensänderungen, wie zum Beispiel ein häufigeres Zusammenkauern, ein Verhalten, das in den unbehandelten Gruppen selten zu beobachten war.“

Was folgt daraus für die Zukunft?

„Insekten – selbst solche, die wie Schädlinge wirken können – sind für den Planeten von entscheidender Bedeutung. Sie bestäuben die Pflanzen, die wir essen, und sind ein wichtiger Teil des Nahrungsnetzes“, betont Erstautor Gandara.

„Lange Zeit wurde über die verschiedenen Gründe für Verhaltensänderungen bei Insekten spekuliert, aber jetzt trägt diese Forschung dazu bei, einen wichtigen Faktor zu klären. Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus dieser Arbeit ist, dass selbst geringe Mengen bestimmter Chemikalien Auswirkungen haben.“

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Erstellt:
28. Oktober 2024, 15:18 Uhr
Aktualisiert:
28. Oktober 2024, 16:32 Uhr

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