„Wir fühlen uns hier pudelwohl“

Aussiedlerfamilie Harder aus Kasachstan hat in Großerlach eine neue Heimat gefunden und sich eine Existenz aufgebaut

Sie haben ihr Zuhause in Großerlach gefunden und sind rundum glücklich: Wladimir und Nelly Harder. Foto: E. Klaper

Sie haben ihr Zuhause in Großerlach gefunden und sind rundum glücklich: Wladimir und Nelly Harder. Foto: E. Klaper

Von Elisabeth Klaper

GROSSERLACH. Für die Familie Harder hat der Begriff Heimat eine besondere Bedeutung. Im 19. Jahrhundert wanderten ihre Vorfahren nach Russland aus, wurden aber im 20. Jahrhundert diskriminiert und gezwungen, die neue Heimat zu verlassen. Darum kehrten die Nachkommen zurück ins Land der Urgroßeltern. „Am 1. März 1991 kamen wir in Großerlach an“, erinnert sich Wladimir Harder. Er und seine Mutter Christine, seine Frau Nelly und die beiden Kinder Nikolaj und Nelly sind russlanddeutsche Aussiedler aus Karaganda in Zentralkasachstan. Wladimirs Vorfahren stammten aus Fellbach, wo er noch heute Verwandte hat. In den 1870er-Jahren wanderte sein Urgroßvater in den Kaukasus aus.

Doch im Zweiten Weltkrieg wurde die Familie 1942 nach Kasachstan verschleppt, wo sie im extremen Steppenklima leben und im Steinkohlebergwerk arbeiten musste, erzählt der auch Waldemar genannte 67-Jährige, der selbst Bergmann war. Nelly hat Verwandte in Kaiserslautern, doch ihre Vorfahren, die Familie Seifert, hat ihre Wurzeln in Hessen, leider sei der Herkunftsort nicht bekannt, bedauert sie.

1804 wanderten die Seiferts aus, fuhren von Kiel mit einem Schiff über die Ostsee nach St. Petersburg und siedelten sich an der unteren Wolga an. 1931, während der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft unter Stalin, wurden sie wie andere Wolgadeutsche nach Kasachstan zwangsumgesiedelt. Wie viele andere Russlanddeutsche hatte auch die Familie Harder wegen deren schwieriger politischer und wirtschaftlicher Situation „schon seit vielen Jahren den Wunsch, nach Deutschland auszuwandern“, betont Wladimir.

Dies war aber erst Ende der 1980er-Jahre dank Michail Gorbatschows Reformpolitik möglich. „Da haben wir sofort zugegriffen“, erklärt er. Im Februar 1991, kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion, reisten die Harders mit dem Flugzeug über Moskau aus und kamen in Kiel an. „Man fragte uns, wo wir hinziehen möchten. Wir wollten in einen Ort, wo wir selbst neu anfangen konnten“, betont Wladimir. Mit dem Zug ging’s weiter, erst nach Tübingen, dann nach Schorndorf und Backnang, wo jedoch die Aufnahmelager bereits überfüllt waren.

So kam die Familie eher zufällig nach Großerlach. „Wir, die Familie meiner Schwester und andere Aussiedler wurden mit Bussen der Gemeinde abgeholt“ und in die neu gebaute Schwalbenflughalle einquartiert, erzählt der heute 67-Jährige.

Diese hatte man zum Aufnahmelager umfunktioniert und in acht Räume aufgeteilt, wobei sich je zwei Familien einen Raum teilen mussten. Jeder Raum war ausgestattet mit einer Küche, Stockbetten und allem Notwendigen, maximal 82 Personen waren so untergebracht. Bis Juli 1992 blieben die Harders dort: „Die ersten beiden Jahre waren die schwierigste, aber auch die beste Zeit“, meint Wladimir. „Zwar gab es auch mal Streit, weil wir so eng zusammenlebten, aber wir haben von Anfang an viel Unterstützung erhalten, denn die Gemeinde hat alles optimal organisiert. Die Kinder kamen gleich in die Grundschule Großerlach, wo eine Lehrerin Russisch sprach“, hebt der Familienvater hervor. Und: „Wir haben uns verliebt in die idyllische Gegend.“ Im Gegensatz zu anderen Aussiedlern, die bald wieder wegzogen, weil sie lieber in einer Stadt leben wollten, blieben die Harders in Großerlach.

„Die Einheimischen sind auf uns zugekommen, waren sehr freundlich zu uns, sehr hilfsbereit und haben uns stark unterstützt“, betonen Nelly und Wladimir, die seit 1980 verheiratet sind. Der damalige Graber Ortsvorsteher Josef Holub „hat sehr viel für uns getan“, ebenso Mitarbeiter der Gemeinde sowie Mitglieder der evangelischen Kirchengemeinde. „Auch wir sind offen auf die Menschen in Grab und Großerlach zugegangen“, verdeutlichen die Eheleute. „Wir hatten nirgends Probleme, darum hat das Zusammenleben mit den Einheimischen von Anfang an bestens funktioniert und ist uns die Integration so gut gelungen.“

Bereits kurz nach der Ankunft habe er die Zusage für einen Arbeitsplatz bei einem örtlichen Bauunternehmen bekommen, erklärt Wladimir. Dort war er einige Jahre tätig, später in einem Murrhardter Baumarkt.

Dank seiner Großmutter sprach er gut Deutsch. Dagegen musste Nelly die Sprache der neuen alten Heimat erst lernen. Die heute 56-jährige studierte Modedesignerin leitete in Karaganda ein Modeatelier. Nachdem sie einen Deutschsprachkurs absolviert hatte, arbeitete sie etliche Jahre in einem örtlichen Pelz- und Lederverarbeitungsbetrieb, später in einem Backnanger und seit 2017 in einem Stuttgarter Modekaufhaus.

Aus der Schwalbenflughalle zog die Familie im Sommer 1992 um nach Morbach und wohnte drei Jahre bei der Familie Haag. 1995 kaufte sie ein Haus in der Sommerhalde, das für Nelly und Wladimir sowie dessen pflegebedürftige 92-jährige Mutter Christine zum gemütlichen Heim geworden ist. Schon bald nach ihrer Ankunft traten Wladimir und sein Sohn Nikolaj in die Abteilung Tischtennis der Sportfreunde Großerlach ein und Nelly wurde Mitglied im Landfrauenverein Grab.

Da beide rasch Arbeit fanden, konnten sie sich bald eine neue Existenz aufbauen. Auch ihre Kinder sind beruflich erfolgreich: Tochter Nelly (29) absolvierte nach dem Abitur am Murrhardter Heinrich-von-Zügel-Gymnasium eine Ausbildung zur Europasekretärin, nun lebt und arbeitet sie in Pfedelbach bei Öhringen. Sohn Nikolaj (37) ist als Mediengestalter und Grafiker in einem Großerlacher Unternehmen tätig.

„Nach unserer Ankunft in Deutschland hatten wir keine Zeit für Heimweh und nachzudenken. Deshalb machten wir 1993 Urlaub in Kasachstan, um Abschied von unserem alten Leben zu nehmen, denn Großerlach ist für uns zur neuen Heimat geworden“, verdeutlicht Nelly. „Aber wir haben auch weiterhin vielfältige Kontakte und pflegen Beziehungen zu vielen Verwandten, Freunden und Bekannten, die heute weit verstreut in Deutschland und der ganzen Welt leben.“

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Erstellt:
20. Juli 2018, 06:00 Uhr

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