„Wir sind zum Teil auch Seelsorger“

Das Interview: Per Telefon schickt die Gemeindeverwaltung an Covid-19-Erkrankte und ihre Kontaktpersonen in Quarantäne. Doch wer übernimmt diese Anrufe und wie laufen sie ab? Hauptamtsleiterin Madelaine Fischer aus Weissach im Tal berichtet.

Mit Headset und Maske macht Madelaine Fischer sich an die Kontaktnachverfolgung. Im Rathaus herrscht generelle Maskenpflicht. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Mit Headset und Maske macht Madelaine Fischer sich an die Kontaktnachverfolgung. Im Rathaus herrscht generelle Maskenpflicht. Foto: A. Becher

Von Melanie Maier

Frau Fischer, seit März 2020 übernimmt die Gemeindeverwaltung und nicht mehr das Gesundheitsamt die Kontaktnachverfolgung in Weissach im Tal. Was bedeutet das konkret?

Wir informieren die Menschen, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben, und deren Kontaktpersonen der Kategorie 1, also diejenigen mit einem höheren Infektionsrisiko. Ihnen verordnen wir eine zehntägige Quarantäne und stellen einen Quarantänebescheid aus. Diesen braucht etwa der Arbeitgeber.

Woher wissen Sie, wen Sie anrufen müssen?

Wir erhalten die Daten der Infizierten vom Gesundheitsamt per E-Mail. Im besten Fall vollständig, dann steht darin, wann der Testabstrich erfolgt ist, dazu der Name und eine Adresse. So kommen wir schnell an eine Telefonnummer. Mit den Betroffenen gehen wir einen vorgefertigten Fragebogen durch. Der muss vollständig ausgefüllt an das Gesundheitsamt zurückgeschickt werden.

Was wird in dem Fragebogen abgefragt?

Standardmäßig wird abgefragt, mit wem die Person in den 48 Stunden vor Symptombeginn Kontakt hatte, wer also als enge Kontaktperson gilt, persönliche Angaben sowie Covid-19-Symptome. Ab Sommer wurde zum Beispiel noch gefragt, ob die Person im Urlaub war, wie sie dorthin gekommen ist und wo sie sich aufgehalten hat. Der Fragebogen wird laufend aktualisiert.

Wie gehen Sie vor, wenn das Gesundheitsamt Ihnen nicht alle Daten zuschickt?

Dann müssen wir selbst recherchieren. Das ist sehr aufwendig und zeitintensiv. Wenn wir die Telefonnummer nicht ausfindig machen können, gehen wir zu der Adresse und klingeln. Da man an der Haustüre natürlich nicht über sensible Themen wie eine Erkrankung sprechen möchte, fragen wir an der Sprechanlage nur nach einer Telefonnummer, über die wir die Person später erreichen können.

Sind die Leute überrascht, wenn Sie anrufen?

Die Infizierten rechnen in der Regel mit unserem Anruf. Die meisten wissen auch, wer ihre engen Kontaktpersonen sind und warnen sie vor, dass sich bald jemand von der Gemeinde meldet. Sonst bekommen die ja einen Schock, wenn auf einmal die Ortspolizeibehörde anruft. Es kommt selten vor, dass eine Kontaktperson nicht informiert wurde und auch nicht weiß, wer die erkrankte Person ist, mit der sie zu tun hatte. Aus Datenschutzgründen dürfen wir ihnen das aber auch nicht mitteilen.

Wie reagieren die Betroffenen am Telefon?

Ganz unterschiedlich: Von Wut über Angst, Frust, Unwissenheit, aber auch Verständnis, ist alles dabei. Wir sind zum Teil auch Seelsorger. Viele, die wir anrufen, sorgen sich darum, was jetzt auf sie zukommt. Da geht es darum, ein offenes Ohr zu haben – egal, ob man es mit dem Vater eines infizierten Kindergartenkinds oder mit einer älteren Frau zu tun hat, die keine Ansprechpartner mehr hat. Wir haben schnell gemerkt, dass ein erhöhter Beratungsaufwand mit der Aufgabe verbunden ist.

Wie lange brauchen Sie pro Fall?

Wenn alles gut läuft, ist ein Fall innerhalb einer halben bis dreiviertel Stunde abgewickelt. Das kommt aber so gut wie nicht vor. Es ist meistens so, dass entweder die Daten oder der Fragebogen nicht vollständig sind oder die Person Rückfragen hat. Manche Fälle ziehen sich über Stunden oder sogar Tage hinweg – zum Beispiel, wenn ein Infizierter viele Kontakte hatte oder wenn es sich um einen schweren Krankheitsverlauf handelt. Sobald die Quarantäne angeordnet ist, ist der Aufwand normalerweise gering. Dann stehen wir nur noch für eventuelle Rückfragen zur Verfügung.

Welche Rückfragen erreichen Sie?

In der Regel Alltagsfragen. Eine typische Rückfrage ist, ob man noch zum Briefkasten gehen darf. Im Sommer wollten viele auch wissen, ob sie noch auf ihre Terrasse sitzen dürfen. Jetzt, nach einem Jahr Pandemie, wissen die meisten aber selbst ganz gut, wie sie mit der Situation umgehen können.

Wie gehen Sie vor, wenn eine Person sich weigert, sich in Quarantäne zu begeben?

Das ist zum Glück nie vorgekommen. Wir hatten insgesamt wenige schwierige Fälle. Und wenn wir verständnisvoll mit den Leuten sprechen, erklären, warum das nötig ist, kommen sie oft schnell zur Einsicht. Wenn jemand uneinsichtig war, reichte bisher die Androhung der Möglichkeit aus, ein Ordnungswidrigkeitsverfahren einzuleiten, um die Leute zum Einlenken zu bringen.

Wie viele Anrufe waren es bisher?

Unzählige: Mindestens einen je infizierter Person und einen je Kontaktperson. In Weissach im Tal haben sich seit Beginn der Pandemie 254 Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Zu diesen gab es jeweils unterschiedlich viele Kontaktpersonen. Von keiner weiteren Person bis mehr als 30 Kontaktpersonen war alles mit dabei. Nachgezählt haben wir die Gesamtzahl jedoch nicht.

Hat sich die Anrufmenge im Lauf der Pandemie verändert?

Definitiv. Jetzt, im Lockdown, haben die Menschen viel weniger Kontakte als im Herbst, als man sich noch beliebig treffen durfte. Zwischen September und November war der Aufwand für uns enorm. Die Leute wussten selbst nicht mehr, wen sie wann getroffen haben. Irgendwann war die Kette der Kontaktpersonen nicht mehr nachvollziehbar. Daher halte ich die Kontaktbeschränkungen für sehr sinnvoll. Die letzten beiden Wochen war es aber etwas ruhiger und wir hatten kaum Neuinfizierte.

Wer neben Ihnen kümmert sich um das Thema im Rathaus?

Von März bis November haben das ein Kollege und ich zu zweit gemacht. Als wir gemerkt haben, dass es überhandnimmt – dass wir auch das Wochenende brauchen, um alle Kontakte nachzuverfolgen – haben wir ein Team aus sechs Personen innerhalb der Verwaltung gegründet. Seither übernehmen zwei Personen die Fälle unter der Woche, an den Wochenenden wechseln wir uns ab. Das machen übrigens alle freiwillig, neben ihrer eigentlichen Arbeit.

Wie geht es Ihnen persönlich mit dieser zusätzlichen Aufgabe?

Die Mehrarbeit belastet mich weniger. Es ist aber nicht zu leugnen, dass die Pandemie einen sehr fordert. Was mich belastet, ist, dass wir nicht jedem Bürger zeitlich gerecht werden können – wir müssen ja auch unsere Arbeit erledigen. Dazu kommen die persönlichen Schicksale: Krippenkinder, die nicht verstehen, warum sie daheim bleiben müssen, Familienmitglieder, die sich nicht sehen können, Infizierte mit schweren Krankheitsverläufen, Menschen, die nicht von ihren Angehörigen Abschied nehmen konnten, Todesfälle. Das geht nicht spurlos an einem vorbei.

„Wir sind zum Teil auch Seelsorger“

© Janine Kyofsky

Madelaine Fischer

Madelaine Fischer leitet das Corona-Nachverfolgungsteam in Weissach im Tal.

Fischer wurde 1993 in Backnang geboren. Auf dem Rathaus Unterweissach absolvierte sie eine Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten. Nebenberuflich ließ sie sich zur Verwaltungsfachwirtin weiterbilden.

Seit 2017 hat Fischer die stellvertretende Hauptamtsleitung auf dem Rathaus Unterweissach inne. Im November 2020 übernahm sie zudem die kommissarische Leitung des Haupt- und Ordnungsamtes.

Zum Artikel

Erstellt:
8. Februar 2021, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen