Wissenschaftlerin: Diskussion über Kolonialismus anstoßen

dpa/lsw Mannheim. „Nur wer seine Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft“ - unter diesem Motto von Wilhelm von Humboldt lässt sich die Arbeit von Koloniallinguisten fassen. Sie suchen nach Spuren des Kolonialismus im Deutschen und in Sprachen deutscher Kolonialgebiete.

Eine Sprachwissenschaftlerin plädiert für mehr Sensibilität im Umgang mit sprachlichen Relikten der deutschen Kolonialherrschaft. So dürfen deren Vertreter nach Ansicht von Koloniallinguistin Doris Stolberg auf Straßenschildern nicht mehr geehrt werden. „Auch wenn man den Namen beibehält und ihn in einen erklärenden Kontext stellt, ist das zu wenig“, sagte die Expertin vom Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim der Deutschen Presse Agentur. Vorteil der Diskussion um Straßenumbenennungen sei, dass ein größerer Teil der Bevölkerung als bisher sich mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands auseinandersetze.

Neben einem anderen unverdächtigen Namen als Ersatz für historisch fragwürdige Namen komme auch eine Benennung infrage, die an die Opfer von Kolonialherrschaft erinnert. Als Beispiel nannte Stolberg eine Herero-Straße im Gedenken des Hirtenvolkes, das in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, fast komplett getötet wurde.

Auf der anderen Seite stehen Stolberg zufolge Namensgeber wie der Kolonialherr Carl Peters (1856 bis 1918), der in vielen deutschen Städten zu Unrecht mit einem Straßennamen gewürdigt worden sei. Der Gründer der Gesellschaft für deutsche Kolonisation ging in Ostafrika so grausam gegen die Bevölkerung vor, dass er zurückbeordert wurde. In Berlin wird künftig ein Teil der Petersallee an den Maji-Maji-Aufstand der ostafrikanischen Bevölkerung gegen die deutsche Kolonialherrschaft erinnern.

Wichtig sei bei Umwidmungen, mit allen Beteiligten in Dialog zu kommen, betonte Stolberg: Kommunalvertreter, Experten, von einer Adress-Änderung betroffene Anwohner und bestenfalls Nachfahren von Menschen, die Kolonialherrschaft ausgesetzt waren. Was letztere betrifft, dürfe es keine Einbahnstraße geben: „Wir dürfen nicht nur über sie sprechen, sondern müssen mit ihnen reden.“ Tahir Della von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland sieht in der Diskussion auch einen Gewinn für die Nachfahren unterdrückter Völker, die kaum mehr von diesem Teil ihrer Geschichte wüssten als die Nachfahren der Kolonialherren.

Der Schwerpunkt der Linguistin liegt in der Übersetzung von Dokumenten aus der Kolonialzeit. „Wir wollen für die Nachfahren der Menschen, die in unter der Kolonialherrschaft gelebt haben, in Englisch, Französisch und Deutsch abgefasste Dokumente in deren eigenen Sprachen zugänglich machen.“ Es handele sich um Gesetze, Schulbücher und Berichte von Missionen, aus denen Menschen heute Wissen über das Leben ihrer Vorfahren schöpfen können.

Diese Schriften zeigten auch, wie die Kolonialherren die beherrschten Menschen sahen. „In der in der Kolonialzeit war die Überzeugung dominant, dass die Kolonialmächte Zivilisation, Wissen, Fortschritt und Kultur repräsentierten, während mit den kolonisierten Gebieten Natur, aber auch Rückständigkeit verbunden wurde.“

Zur Koloniallinguistik gehört auch, zu untersuchen, welchen Einfluss die Sprache der Kolonialherren auf die der Einheimischen hatte und umgekehrt. So kamen deutsche Lehnwörter in die lokalen Sprachen, etwa ins Tok Pisin, Amtssprache in Papua-Neuguinea. Das Wort „raus“ bedeutete „hinausgehen“. Sprache ist aus Sicht von Della ein Instrument gewesen, um den kolonialisierten Gesellschaften die eigenen Werte aufzuzwingen und deren Kultur zu eliminieren.

Die linguistische Aufarbeitung des Kolonialismus erinnert an die Diskussion um die Rückgabe von Exponaten in deutschen Museen an die Länder, aus denen sie gestohlen wurden. Die Forderung der Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) nach einer „Dekolonisierung des Denkens“ hat im IDS bereits begonnen.

© dpa-infocom, dpa:211228-99-520771/2

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Erstellt:
28. Dezember 2021, 06:32 Uhr

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