„Der ländliche Raum ist die Zukunft“

Leben auf dem Land Im Interview spricht Peter Hauk, Baden-Württembergs Minister für Ländlichen Raum, über die Veränderung der dörflichen Strukturen sowie Chancen und Herausforderungen für ländliche Regionen.

Der nordöstliche Teil des Rems-Murr-Kreises wird als ländlich definiert. Großerlach zählt dazu. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Der nordöstliche Teil des Rems-Murr-Kreises wird als ländlich definiert. Großerlach zählt dazu. Foto: A. Becher

Herr Hauk, zum Einstieg erst einmal die Frage: Wie definiert sich ländlicher Raum?

Wichtige Merkmale sind zunächst eine geringere Siedlungsdichte und ein höherer Anteil an Freiflächen. In der Praxis legen wir bei unserer Arbeit den Landesentwicklungsplan zugrunde, der das Landesgebiet in sogenannte Raumkategorien einteilt. Der ländliche Raum umfasst dabei zirka 70 Prozent der Landesfläche und rund 35 Prozent der Bevölkerung. Allerdings hat der „gefühlte“ ländliche Raum mit dieser offiziellen Definition oft nicht mehr viel zu tun. Wenn man die Baden-Württemberger fragt, wo sie leben, dann glauben nämlich rund
60 Prozent der Menschen, sie leben im ländlichen Raum. Man kann also sagen, der ländliche Raum spiegelt zum größten Teil die Lebenswirklichkeit in Baden-Württemberg wider.

Wie hat sich der ländliche Raum in Baden-Württemberg über die vergangenen Jahrzehnte verändert?

Die dörflichen Strukturen haben sich über die vergangenen Jahrzehnte natürlich sehr stark verändert. Häufig ging dies auch mit einem merklichen Rückgang an Einrichtungen der Daseinsvorsorge einher, auch wenn die Erreichbarkeitssituation in Baden-Württemberg in der Fläche immer noch sehr gut ist, insbesondere im bundesweiten Vergleich. Gleichzeitig entstanden aber auch neue Möglichkeiten, vor allem im Bereich der Digitalisierung. So haben wir heute innovative digitale Lösungen, um beispielsweise Wege spürbar zu verkürzen – Stichwort Telemedizin. Als Land begleiten wir diesen Veränderungsprozess ganz bewusst mit einer vorausschauenden Strukturpolitik, passgenauen Förderinstrumenten und auch mit großen Investitionen in den Breitbandausbau.

Wie würden Sie diesbezüglich den Rems-Murr-Kreis einschätzen? Ländlich? Urban? Beides?

Laut Landesentwicklungsplan heißt die Antwort tatsächlich: beides. Der südwestliche Teil mit Schorndorf, Weinstadt, Waiblingen und Backnang liegt im Einzugsgebiet der Landeshauptstadt Stuttgart und wird als Verdichtungsraum klassifiziert. Der nordöstliche Teil hingegen ist als ländlich definiert. Man muss aber natürlich auch sagen: In der Praxis verschwimmen da die Grenzen. Auch in den Städten gibt es durchaus sehr ländlich geprägte Teilorte. Diese ländliche Prägung berücksichtigen wir aber auch bei unseren Förderprogrammen.

Oftmals ist von Landflucht die Rede – ist dieses Phänomen in der Region noch wahrnehmbar?

Dass gerade junge Menschen in die Städte abwandern, das ist ein flächendeckendes Phänomen. Sie orientieren sich natürlicherweise an den Orten, wo Studium und Ausbildung stattfinden. Dies ist aber überhaupt kein Grund zur Sorge. Tatsächlich lässt sich der Trend zur Stadt mittlerweile nur noch bei den Jungen so klar erkennen, in anderen Altersgruppen sieht das ganz anders aus. Spätestens nach Eintritt in das Berufsleben und mit der Familiengründung tritt der Wunsch nach ruhigen und grünen Wohnorten in den Vordergrund. Gerade die Familien wandern aus den größeren Städten Baden-Württembergs eher ab in den Ländlichen Raum. Abgehängte oder gar aussterbende Gebiete gibt es Baden-Württemberg nicht. Vielmehr zeichnen sich einige Gebiete des ländlichen Raumes durch eine besonders hohe Bruttowertschöpfung, nahezu Vollbeschäftigung und attraktive Lebensbedingungen aus.

Wo liegen die Gründe dafür, sich in Richtung Stadt zu orientieren? Mit welchen Herausforderungen hat man auf dem Land zu kämpfen?

Jüngere Leute wollen ein breites Freizeitangebot und gute, flexible Mobilitäts- und Verkehrsanbindungen. Später wird dann der Arbeitsort relevant. Es ist aber ein Irrtum, zu glauben, dass man das nur in der Stadt hat. Wir haben in Baden-Württemberg eine starke, dezentrale Wirtschaftsstruktur mit vielen Weltmarktführern in der Fläche. So gesehen ist ein Problem des ländlichen Raumes vielleicht oftmals sein Image. Jedoch müssen gerade wir uns in Baden-Württemberg mit unserem besonders starken, aktiven und attraktiven Ländlichen Raum nicht verstecken. Schließlich sind gerade unsere ländlichen Räume eine der wirtschaftlich stärksten und innovationsfähigsten Regionen in Europa.

Was kann der ländliche Raum besonders gut? Womit punktet er?

Auf dem Land gehen mittelständische Weltmarktführer wie auch erfolgreiche Familienbetriebe in Handwerk und Landwirtschaft Hand in Hand. Gleichzeitig bieten die vielen Dörfer und Kleinstädte überaus attraktive Arbeitsstätten und Lebensräume. Der ländliche Raum Baden-Württembergs steht zudem auch für ein besonderes Gefühl des Zusammenlebens, der Gemeinschaft und des Miteinanders, welches sich im Ehrenamt, einem starken Zusammenhalt und in einer selbstverständlichen und aktiven „Mitmachgesellschaft“ ausdrückt. Dass man nicht wartet und jammert, sondern die Ärmel hochkrempelt und kreative Lösungen findet. Auf dem Land ist diese Mentalität sehr ausgeprägt. Noch dazu ist Baden-Württemberg das Bundesland mit dem höchsten Anteil ehrenamtlich engagierter Menschen.

Welche sind die Ansatzpunkte Ihres Ministeriums? Was soll verändert werden? Was soll erhalten bleiben?

Das entscheiden die Bürgerinnen und Bürger. Unser Ansatz ist es, Ideen und Engagement von unten zu fördern und nicht von oben zu verordnen. Denn ländlicher Raum ist nicht gleich ländlicher Raum, die Gegebenheiten und Anforderungen sind von Region zu Region verschieden. Mithilfe der Kommunen sowie der Bürger wollen wir daher ortsangepasste Lösungen finden, um unsere ländlichen Räume auch zukünftig stark und erfolgreich zu halten. Das ist unser Ziel. Bei der Umsetzung von Maßnahmen, Programmen oder Projekten spielt die ressortübergreifende Zusammenarbeit bei uns eine große Rolle. Mit dem Kabinettsausschuss Ländlicher Raum haben wir ein tolles Instrument, mit dem wir alle Ressorts an einen Tisch holen und gemeinsam Lösungen entwickeln, die sich an der Lebenswirklichkeit der Menschen auf dem Land orientieren. Das ist eine schlagkräftige Allianz für den ländlichen Raum, mit der wir viel umsetzen können.

Welche konkreten Projekte und Modellvorhaben hat Ihr Ministerium angestoßen?

Innovative Projektvorschläge zur Sicherung der Attraktivität des ländlichen Raums und der Bedürfnisse seiner Bevölkerung finden bei uns immer Gehör. Für die junge Generation wollen wir beispielsweise im Modellprojekt „Junges Wohnen“ Impulse setzen und Wege aufzeigen, wie vor Ort adäquater Wohnraum für junge Erwachsene geschaffen werden kann. Auch im Kabinettsausschuss Ländlicher Raum werden innovative Modellprojekte umgesetzt und konkrete Handlungsempfehlungen erarbeitet. Hier haben wir das Projekt „Genossenschaftliche Hausarztmodelle“ ins Leben gerufen und die Entstehung von lokalen Online-Marktplätzen gefördert und wissenschaftlich begleitet. Um zu wissen, wo die Förderung ansetzen muss, ist es jedoch wichtig, sich ein Bild von der aktuellen Situation zu machen. Daher führen wir auch regelmäßig Studien durch. Ein sehr umfassendes Bild zeichnet die Studie „Entwicklung der Ländlichen Räume in Baden-Württemberg“, in der eine ganze Bandbreite von Strukturdaten analysiert wird.

Haben Sie schon Erfolge verzeichnen können? Wenn ja, welche?

Das Flaggschiff unserer Förderung ist das Entwicklungsprogramm Ländlicher Raum (ELR). Damit fördern wir flächendeckend die Vorhaben von Kommunen, Betrieben und Privatpersonen. In den letzten 25 Jahren wurden über 26000 Projekte gefördert. Dafür wurden vom Land Baden-Württemberg 1,6 Milliarden Euro an Fördermitteln bereitgestellt. Landesweit zog dieser Zuschuss eine Investitionssumme von 12,6 Milliarden Euro nach sich. Um die Bürgerbeteiligung besonders zu fördern und zu berücksichtigen, besteht darüber hinaus das Förderprogramm Leader. Dieses verfolgt einen Bottom-up-Ansatz, also eine Entwicklungsstrategie von unten nach oben. So können Bürgerinnen und Bürger vor Ort selbst entscheiden, welches Projekt sie vor Ort gerne umsetzen möchten. In den Jahren 2014 bis 2020 standen für Leader landesweit insgesamt etwa 75 Millionen Euro EU- und Landesmittel zur Verfügung. Damit sind die Erfolge unserer Struktur- und Förderpolitik in nahezu jeder Kommune des ländlichen Raumes sichtbar.

Wenn Sie nun einen Ausblick wagen: Wie sieht der ländliche Raum in Baden-Württemberg in der Zukunft aus?

Der ländliche Raum ist die Zukunft, denn er vereint alle Zukunftsthemen in sich. Verbundenheit mit der Natur und Verbundenheit zum Mitmenschen, das sind doch die großen Sehnsüchte unserer Zeit – vielleicht sogar noch ausgeprägter in den Städten, wo die Individualisierung stark ausgeprägt ist. Ich habe den Eindruck, dass dieser Wunsch in Zeiten von Corona noch stärker ins Bewusstsein getreten ist. Der Mensch ist ein soziales Wesen und möchte sich beheimatet fühlen. Was ich nun mit Spannung beobachte, ist, was passiert, wenn der Trend zum Homeoffice anhält und ob dann in Zukunft mehr Menschen tatsächlich dort wohnen, wo sie sich auch wohlfühlen, unabhängig von ihrem Arbeitsort. Wenn dies so eintritt, dann muss dies der ländliche Raum auch als große Chance begreifen. Unabhängig davon bin ich mir sicher, dass der Ländliche Raum in Zukunft eine noch bedeutendere Rolle spielen wird. Denn er ist mehr als ländliches Idyll und übernimmt wichtige Aufgaben für unsere Gesellschaft.

Das Gespräch führte Lorena Greppo.

Minister Peter Hauk. Foto: privat

Minister Peter Hauk. Foto: privat

Zur Person Peter Hauk

Peter Hauk wurde am 24. Dezember 1960 in Walldürn geboren. Nach dem Abitur studierte er Forstwissenschaften an der Albrecht-Ludwigs-Universität Freiburg. Dieses Studium schloss er 1987 als Diplom-Forstwirt ab. Hauk war als Forsteinrichter bei der Forstdirektion Freiburg, stellvertretender Leiter des Staatlichen Forstamtes Schöntal (Jagst) und Projektleiter bei der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg tätig. Von 2002 bis 2005 war er Leiter des Forstamtes Adelsheim.

Seit 1992 ist Hauk als Abgeordneter des Wahlkreises Neckar-Odenwald Mitglied des Landtags von Baden-Württemberg. Seit Mai 2016 ist er Minister für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz.

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Erstellt:
13. November 2021, 06:00 Uhr

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