Kritik am Pflegesystem: Backnanger pflegen ihren Sohn rund um die Uhr

Lara und Johannes Link aus Backnang pflegen ihren achtjährigen Sohn Nathan die meiste Zeit ganz allein und oft rund um die Uhr, weil sie nicht genügend Pflegekräfte finden. Die Familie lebt im chronischen Ausnahmezustand. Mutter und Vater sind bitter enttäuscht vom Pflegesystem.

Lara und Johannes Link am Pflegebett ihres Sohnes Nathan. Alle wissen, er wird in absehbarer Zeit sterben.Fotos: Dietmar van der Linden

© Dietmar van der Linden

Lara und Johannes Link am Pflegebett ihres Sohnes Nathan. Alle wissen, er wird in absehbarer Zeit sterben.Fotos: Dietmar van der Linden

Von Matthias Nothstein

Backnang. Nathan Link aus Backnang ist erst acht Jahre alt. Und dennoch sind seine Tage gezählt. Er hat einen so schweren Gendefekt, dass er in absehbarer Zeit sterben wird. Seine Eltern Lara und Johannes Link sind sich darüber im Klaren und kümmern sich aufopferungsvoll und voller Liebe rund um die Uhr um ihren einzigen Sohn. Und dieses Kümmern hat es in sich: Alle halbe Stunde braucht Nathan eine Infusion - auch nachts, aktuell sieben Medikamente. Dazwischen müssen die Sonden gespült werden. Mehrfach muss der Junge umgelagert werden. Er hat epileptische Krampfanfälle, seine Atmung muss überwacht werden. Kurzum: Nathan benötigt rund um die Uhr intensivmedizinische Betreuung. Rechnerisch wären sieben Vollzeit-Pflegekräfte nötig, um diese Intensivpflege abdecken zu können. Aber die meiste Arbeit übernehmen Nathans Eltern, die auch noch drei Mädchen im Alter von 12, 10 und 2 Jahren zu versorgen und zu erziehen haben.

Lara Link: „Ich halte es für skandalös, dass wir unser Kind nahezu alleine intensivmedizinisch versorgen müssen.“

Nathans Mutter ist bitter enttäuscht vom deutschen Gesundheitssystem. Denn trotz intensiver Suche finden sie und ihr Mann nicht ausreichend Pflegepersonal für ihren Sohn. Und das, obwohl das Paar sämtliche Pflegedienste im großen Umkreis angefragt hat. Hundertmal schon, sagt sie den Tränen nahe. Aktuell unterstützt nur der Pflegedienst Prolog aus Freiberg am Neckar die maximal geforderte Familie. Die anderen Pflegedienste haben eigenen Auskünften zufolge keine Mitarbeiter, die konstant und zuverlässig und kompetent diese Kinderintensivpflege übernehmen könnten oder wollten. Immer wieder bekommen die vierfachen Eltern zur Antwort: Keine Kapazitäten. Und so schaffen sie weiter am Rande der Erschöpfung, im chronischen Dauerausnahmezustand.

Die Eltern haben ihre Jobs aufgeben müssen

Immerhin, der Pflegedienst Prolog entlastet die Eltern, indem er von 22 bis 8 Uhr die Betreuung des Kindes übernimmt. Vier Intensivpflegekräfte sind abwechselnd im Einsatz. Maximal 20 Nächte pro Monat, oft weniger. Wenn der Pflegedienst nämlich selbst mit einer Krankheitswelle zu kämpfen hat oder wenn Urlaub oder Feiertage anstehen, dann kann es auch passieren, dass die Eltern wieder einen Monat komplett auf sich alleine gestellt sind. Es ist müßig zu erwähnen, dass beide schon seit Jahren ihren Job aufgegeben haben und vom Ersparten und vom Kinderpflegegeld der Krankenkasse leben. Johannes Link hatte lange noch als Zweiradmechaniker in Stuttgart gearbeitet und seine Arbeitszeit immer weiter reduziert. Der Spagat zwischen Arbeit, Familie und Pflege war unfassbar anstrengend. Seit 2022 ist er komplett zuhause.

Lara Link arbeitete früher als Medizinisch Technische Angestellte. Die 37-Jährige ist inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem sie ihre Enttäuschung über das Gesundheitssystem nicht mehr zurückhält: „Wir haben die Pflege jahrelang stillschweigend übernommen, weil wir’s machen mussten, es gibt keine Alternative. Aber jetzt sollen alle Backnanger, alle Nachbarn es ruhig wissen, welche Not wir haben und wie es um die Pflege in Deutschland steht. Ich habe mehrfach Gesundheitsminister Karl Lauterbach geschrieben und meinen Alltag geschildert zwischen Windelwechseln bei meinem Stillkind, Englischvokabellernen mit den Großen und Nathans Morphinspritzen. Aber ich habe nie eine Antwort erhalten. Ich halte es für skandalös, dass wir unser Kind nahezu alleine intensivmedizinisch versorgen müssen. Ich bin nach mehreren Pflegenächten hintereinander völlig übermüdet und sollte trotzdem hellwach sein, weil jeder Handgriff an Nathans zentralem Medikamentenzugang bei einem Fehler der letzte sein könnte.“

Die Genmutation wurde erst nach Jahren entdeckt

Als Nathan vor bald neun Jahren zur Welt kam, war er auf den ersten Blick ein gesundes Kind. Dass etwas mit ihm nicht stimmte, fiel nur an Kleinigkeiten auf. Er hatte eine Trinkschwäche und übergab sich öfter. Auch fehlte die Körperspannung. Dann folgte eine Lungenentzündung. Die Ärzte machten Hoffnung, wenn sich die Lunge stabilisiere, werde sich der Knabe gut entwickeln und alles aufholen, so die Prognosen.

In der Tat lernte der Kleine laufen, zwar erst mit drei Jahren, aber immerhin. Auch sprechen. „Er hat halt eine Entwicklungsverzögerung“, sagten die Experten und beschwichtigten immer wieder. Doch seit dem fünften Geburtstag ging die Entwicklung nicht mehr vorwärts. Im Gegenteil. Ständig kam eine neue Beeinträchtigung dazu. Erst konnte er nicht mehr gehen, dann nur noch unsicher stehen. Dann fiel ihm das Sprechen immer schwerer. Später erhält er seine Nahrung nur noch über Infusionen. Heute liegt er nur noch im Bett und muss immer wieder umgelagert werden. „Es ist ein Sterben auf Raten“, sagt Mutter Lara. Die Ärzte vermuten eine Mitochondriopathie. Das heißt: Die an der Atmungskette beteiligten Eiweiße (Proteine) sind durch Genmutationen nicht funktionstüchtig, sodass der Körper nur relativ wenig Energie gewinnen kann. Rettung, Heilung gar gibt es keine.

Drei Hände, die ineinander greifen. Die Plastik soll einmal eine Erinnerung sein, wenn Nathan nicht mehr lebt.

© Dietmar van der Linden

Drei Hände, die ineinander greifen. Die Plastik soll einmal eine Erinnerung sein, wenn Nathan nicht mehr lebt.

Am Samstag gibt es für die überlastete Familie wieder einen kleinen Lichtblick. Dann dürfen sie Nathan zu einem sogenannten Entlastungsaufenthalt für zwei Wochen ins Stuttgarter Kinderhospiz bringen. Davor steht heute noch eine Fahrt ins Olgäle an, weil gestern ein Katheter kaputt gegangen ist. „Solche kleinen Katastrophen haben wir immer“, sagt Lara Link.

Viel Lob gibt es für den Kinderhospizdienst Sternentraum

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Auf die Entlastung freut sie sich umso mehr, weil sie sich dann auch intensiv um ihre drei Mädchen kümmern kann. Dann zitiert sie selbst den Begriff Schattenkinder, den sie gar nicht mag. „Ich lehne den Begriff ab, weil er suggeriert, dass die Geschwisterkinder immer im Hintergrund stehen. Das tun sie bei uns aber nicht. Wir leben bewusst und versuchen, viel Zeit miteinander zu verbringen und zu gestalten.“

Voll des Lobes ist das Ehepaar, das seit zehn Jahren in Backnang lebt, über den Kinderhospizdienst Sternentraum. Dort gibt es für jedes ihrer Mädchen einen direkten ehrenamtlichen Begleiter, der den Kindern einmal die Woche einen ganzen Nachmittag zur Seite steht und etwas mit ihnen unternimmt. „Quality time“ lautet der Fachbegriff. Lara Link drückt es anders aus: „Die Mitarbeiter von Sternentraum leisten ganz, ganz wertvolle Arbeit. Unsere Kinder, die hier vor Ort keine Großeltern haben, sind jedesmal im absoluten Glück. Das sind Goldrahmen-Momente.“

Johannes Link: „Dazu kommt die Bürokratie. Alle Anträge werden zuerst abgelehnt. Ohne Hilfe stelle ich keine Anträge mehr.“

Der Ärger über den Pflegenotstand ist nicht alles. Johannes Link ist zudem frustriert über die unfassbare Bürokratie, mit der er sich herumschlagen muss. Seine Erfahrung ist: „Alle Anträge werden erst einmal abgelehnt. Dann muss ich Widerspruch einreichen. Ohne Hilfe von Experten würde ich es sein lassen.“

Zumindest die beiden großen Mädchen verstehen aber auch, dass bald die Zeit kommt, sich von ihrem Bruder zu verabschieden. Für immer. Im Gegensatz zu vielen anderen Familien gehen Links, die in der Liebenzeller Gemeinde Backnang beheimatet sind, ganz offen mit dem Thema Tod und Sterben um. So sehr, dass andere gar irritiert sind. „Meine Mädchen sprechen manche Dinge gar nicht mehr an, weil sie spüren, dass die meisten Menschen bei solchen Themen erschrecken“, sagt Lara Link und fügt an: „Nathans große Geschwister sind emotional viel weiter entwickelt als alle ihre anderen Altersgenossen.“

Wie offen der Umgang mit dem Tod ist, wird auch ganz plastisch deutlich. Auf dem Tisch steht eine Plastik, die drei Hände darstellt, die ineinander greifen. Es sind die Hände der Eltern und die Hand von Nathan. Auch ein Handabdruck des Schwerkranken ist in Arbeit, als Andenken für die Zeit, wenn Nathan einmal nicht mehr unter ihnen ist. Und selbst bei einem Beerdigungsinstitut wurde die Familie schon vorstellig. Denn sie hat ganz klare Vorstellungen, wie der Abschied einmal gestaltet werden soll.

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Erstellt:
18. Januar 2024, 06:00 Uhr

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